Zur Marxismus-Kritik von Gustav Landauer und Erich Mühsam
Ewgeniy KasakowEwgeniy Kasakow, Historiker, promovierte im Jahr 2017 an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen zum Thema Oppositionsmodelle in der späten Sowjetunion. Im Anschluss arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Comparative History and Political Studies (CCHPS) an der Universität Perm (Russland). Heute ist er als wissenschaftlicher Kurator beim Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven tätig.
Gustav Landauer (1870-1919) und Erich Mühsam (1878-1934) gehören beide zu den weltweiten bekanntesten Vertreter des deutschsprachigen Anarchismus. Auch wenn sie nicht, wie etwa Max Stirner, zu den Begründern eine eigenen Strömungen im Anarchismus zählen, wird ihr Wirken und ihr Werk von der Geschichtsschreibung und dem Kulturbetrieb immer wieder aufgegriffen. Vielen Anarchist:innen, die für die Bewegung keine geringere Bedeutung hatten, blieb diese postume Bekanntheit versagt und sie sind heute nur noch in anarchistischen Kreisen bekannt. Landauer und Mühsam haben es in die Geschichtsschreibung und den Kanon geschafft, wenn auch als zwei verschrobene Gestalten. Die Biographien der beiden weisen viele Parallelen auf. Beide kamen aus dem jüdischen Bildungsbürgertum, beide waren nicht nur politisch, sondern auch literarisch tätig, wobei Landauers literarisches Werk im Schatten seines politisch-philosohischen steht, während Mühsam vorrangig als Dichter rezipiert wird. Beide lassen sich in die »klassische« Dreiteilung des Anarchismus in individualistischen, kollektivistischen und kommunistischen nicht ohne weiteres einordnen – sowohl Landauer als auch Mühsam schätzten den »Individualisten« Stirner, wobei Landauer sich selber als »Sozialist« und Mühsam sich als »Anarchokommunist« bezeichnete. (1) Beide zeigten ein starkes Interesse an Anarchismus als einem im Hier und Jetzt, wenn auch in Rahmen von kleinen Gemeinschaften, lebbaren Konzept. Beide nahmen aktiv an der Münchener Räterepublik 1919 teil. Beide fielen rechter Gewalt zum Opfer, im Fall von Landauer der vom Staat geduldeten, im Fall Mühsams der vom Staat ausgeübten. In beiden Fällen dürfte die Faszination für die Biographie gegenüber der fürs Werk bei den Rezipient:innen im Vordergrund stehen. In Sinne der heutigen anarchistischen Terminologie kann das Wirken von Landauer und Mühsam als ein Beispiel von »präfigurativer Politk« gelten. (2) In Zeiten, in denen der in Form von sozialdemokratischen Parteien organisierte Marxismus sich vor allem über Bekenntnis zum Bescheidwissen über die angeblich in der Geschichte wirkende Gesetze definierte, hielt der Anarchismus den Willen zur sofortigen Veränderung hoch, betonte, dass die gesellschaftliche Veränderung Verbesserungen für die Individuen bedeuten soll. Obwohl weder Landauers »Sozialistischer Bund«, noch die von Mühsam zeitweilig stark geprägte Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD) zahlenmäßig große Organisationen waren, steht der Einfluss der beiden Autoren auf die anarchistische Konzepte späterer Generationen außer Frage. Landauers Streben nach der Vorwegnahme von Modellen für ein anarchistisches Zusammenleben im »Hier und Jetzt« (3) und Mühsams Verbindung von künstlerischen und politischen betriebsamen Aktivismus (4) dienen verschiedenen anarchistischen Strömungen als Inspiration. Selbst scharfe Kritiker:innen des historischen, wie auch des gegenwärtigen Anarchismus aus dem marxistischen Lager schreiben über die beiden Autoren mit einer gewissen Sympathie. (5)
Es gibt, angefangen bei Michail Bakunin. eine ganze Reihe bekannter anarchistischer Autoren, die der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie hohe Anerkennung zollten (Carlo Caifero, Johann Most, Daniel Guérin), andere pflegten Marx eher zu ignorieren (Pjor Kropotkin, Rudolf Rocker) – Landauer und Mühsam attackierten den Marxismus dagegen frontal. Das hat beide nicht daran gehindert, zeitweilig aktiv mit Marxisten und Kommunisten zusammenzuarbeiten. Im Fall von Landauer blieb es bei einer Episode, Mühsam dagegen wurde zu Lebzeiten in der anarchistischen Bewegung für seine Nähe zu der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), in der er kurze Zeit sogar Mitglied war, kritisiert. Die Zusammenarbeit ließ sie allerdings in keiner Weise ihre Kritik an die marxistische Theorie relativieren. Mühsam, der sich durchaus positiv auf die Herrschaft der Räte berief, war zugleich ein entschiedener Gegner der Herrschaft der kommunistischen Parteien. Er war zwar bereit, die stalinistische Justiz gegen die bürgerliche Kritik in Schutz zu nehmen, wie man diesem Zitat aus dem Jahr 1930 entnimmt: »Die Erschießung der 48 Leute, welche von der GPU (a) beschuldigt wurden, unter der Maske treuer Mitarbeit am Aufbauwerke des sozialistischen russischen Staates jahrelang organisierte Zerstörungsarbeit eben an diesem Werke betrieben, Nahrungsmittelfälschungen, Warenverderb und Betriebsstörungen größten Umfanges organisiert zu haben, kann Bedenken in uns erwecken, ob man mit diesen Personen wirklich die richtigen erwischt hat, da hier nicht wie im Schachty-Prozeß öffentlich verhandelt wurde, sondern nachträglich verlangt wurde, wir sollen an das Eingeständnis der Schandtaten bei allen 48 geheim Verurteilten glauben, aber die Radikalmaßnahme an und für sich, wenn es sich wirklich um eine derartig wirksame und bösartige Schädigung der arbeitenden Massen handelt, brauchte uns wahrhaftig nicht zum Haarausraufen zu veranlassen. Von den 42 deutschen Schöngeistern, die ihrem Entsetzen über die Hinrichtungen Ausdruck gegeben haben, hat nicht ein einziger seinen Namen damals unter den Aufruf gesetzt, den wir linken Revolutionäre vor drei Jahren gegen die Drangsalierung der Oktoberkämpfer in Russland in die Welt hinaussandten.« (6) Doch selbst in solchen Texten bleibt er in den theoretischen Fragen kompromisslos und spricht dem Marxismus die ernsthaften Absicht, den Staat eines Tages doch noch abzuschaffen beziehungsweise überflüssig zu machen, ab.
An diese Stelle soll ein zentraler Vorwurf Landauers und des sich als sein politischer Schüler betrachtenden Mühsam gegen den Marxismus geprüft werden. Ich behaupte, dass dieser Kritikpunkt kein zufälliger ist, sondern auf eine bis heute zentrale Differenz zwischen anarchistischer und marxistischer Gesellschaftskritik verweist.
1911 sagt Gustav Landauer in seinem Vortrag »Aufruf zum Sozialismus«:
»Ist es nicht von symbolischer Bedeutung, daß das Grundwerk des Marxismus, die Bibel dieser Sorte Sozialismus ›Das Kapital‹ heißt? Diesem Kapitalsozialismus stellen wir unsern Sozialismus gegenüber und sagen: der Sozialismus, die Kultur und der Bund, der gerechte Austausch und die freudige Arbeit, die Gesellschaft der Gesellschaften kann erst kommen, wenn ein Geist erwacht, wie die christliche Zeit und die vorchristliche Zeit der germanischen Völker einen Geist gekannt hat, und wenn dieser Geist fertig wird mit der Unkultur, der Auflösung und dem Niedergang, der wirtschaftlich gesprochen Kapitalismus heißt.« (7)
Landauer kritisierte den Geschichstsdeterminismus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, ihren positiven Bezug auf die quasimilitärische Fabrikdisziplin und Zentralismus. Dagegen stellte für ihn das Formulieren der utopischen Gegenentwürfen einen Wert an sich dar. Wie Elke Dubbels feststellt: »Landauer weist nicht nur wissenschaftliche Aussagen über den Sozialismus zurück, sondern deklariert jedes Sprechen über den Sozialismus als performativen Sprechakt (b).« (8) Äußerungen von subjektiven Wünschen sollen als wichtiger Schritt zum Sozialismus erkannt und gewürdigt werden.
Wie wenig Landauer sich für den Inhalt der Kritik im »Kapital« interessiert. wird schon an seinen positiven Bezug auf den Begriff der ›Gerechtigkeit‹ deutlich, die Marx gerade am Beispiel eines anderen anarchistischen Theoretikers, Pierre-Joseph Proudhon, kritisiert:
»Proudhon schöpft erst sein Ideal der ewigen Gerechtigkeit aus den der Warenproduktion entsprechenden Rechtsverhältnissen, wodurch, nebenbei bemerkt, auch der für alle Spießbürger so tröstliche Beweis geliefert wird, daß die Form der Warenproduktion ebenso notwendig ist wie die Gerechtigkeit. Dann umgekehrt will er die wirkliche Warenproduktion und das ihr entsprechende wirkliche Recht diesem Ideal gemäß ummodeln. Was würde man von einem Chemiker denken, der, statt die wirklichen Gesetze des Stoffwechsels zu studieren und auf Grundlage derselben bestimmte Aufgaben zu lösen, den Stoffwechsel durch die ›ewigen Ideen‹ der ›Natürlichkeit und der Verwandtschaft‹ ummodeln wollte? Weiß man etwa mehr über den Wucher, wenn man sagt, er widerspreche der ›ewigen Gerechtigkeit‹ und der ›ewigen Billigkeit‹ und der ›ewigen Gegenseitigkeit‹ und andern ›ewigen Wahrheiten‹, als die Kirchenväter wußten, wenn sie sagten, er widerspräche der ›ewigen Gnade‹, dem ›ewigen Glauben‹ und dem ›ewigen Willen Gottes‹?« (9)
Erich Mühsam trat wesentlich militanter auf als Landauer, der für einen evolutionäres Sozialismusverständnis plädierte, In seiner Zeitschrift Fanal greift Mühsam 1927 Landauers Kritik in einem mit »Bismarxismus« übertitelten Artikel auf: »Der Marxismus - Landauer weist in seinem herrlichen ›Aufruf zum Sozialismus‹ nachdrücklich darauf hin - beschäftigt sich in allen seinen theoretischen Schriften nirgendwo mit dem Sozialismus, er erschöpft sich in der Analyse und Kritik des Kapitalismus.« (10)
Vielsagend ist an dieser Stelle ist die Formulierung »erschöpft sich« – als wäre die systematische Darlegung eine Leichtigkeit im Vergleich zum Verfassen von Propagandagedichten und emotionalen Pamphleten, die einen beachtlichen Teil von Mühsams Werk bilden.
Der Zusammenhang zwischen der Kritik an den Verhältnissen und praktischen Konsequenzen daraus bestand anscheinend weder für Landauer noch für Mühsam. In der Aufmerksamkeit, die die Kritik der politischen Ökonomie dem Gegensand der Kritik schenkt, sahen Landauer und Mühsam die Verkehrung der Kritik im Lob. Auf hunderten Seiten über das Wesen des Kapitalismus suchten sie vergeblich Beschreibung einer sozialistischen Gesellschaft. Verzicht auf die konkrete Utopie kam für sie der Abkehr von Gesellschaftsveränderung gleich. Sie selber wandten sich von der auf historische Gesetzmäßigkeiten wartenden Sozialdemokratie ab, um vorzeigbare Modelle aufzubauen. Landauers Sympathie für Eduard Bernstein, den Theoretiker der Abkehr von der Revolution in der SPD, ist nur auf den ersten Blick paradox – Bernstein häufig verkürztes Zitat »Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles« könnte auch von Anarchisten stammen. Nur meinte Bernstein damit die Relativierung des als utopisch abqualifizierten Ziels, während im Anarchismus die Verwirklichung der Utopie in noch so kleinen Rahmen als machbar beworben wurde.
Die Analyse des Bestehenden spielt für Landauer und Mühsam keine zentrale Rolle für die Gesellschaftsveränderung. Umso wichtiger wird der individuelle und kollektive Wille zum Wandel. Die Klage darüber, dass nur die Wenigen es tatsächlich wagen, lässt die Gedanken von Landauer und Mühsam immer wieder ins Elitäre kippen. Landauers Hang zur Mystik, seine Kontakte zu esoterischen Zirkeln sind hinlänglich bekannt. Mühsam beklagte immer wieder den Unwillen der Masse endlich mit der herrschaftslosen Gesellschaft anzufangen. (11) Am 3. August 1921 zog er in seinem Tagebuch frustrierte Bilanz der Münchener Räterepublik: »3 000 Personen, die vor Ausbruch der Revolution wirklich revolutionären Willen gehabt haben: noch nicht ein Prozent der ›Masse‹. Die Masse selbst aber besteht aus Spießern, auch die proletarische, die antibourgeois nur in dem Sinne sind, dass sie die Bourgeois beneiden und selbst gern Bourgeois sein möchten.« (12)
Anarchismus formuliert zuerst die positive Utopie und vergleicht dann die Realität damit, wobei der interessierte Vergleich stets zur Gunsten der eigenen Utopie ausfällt. Utopie kann gegen die Realität nur gewinnen, denn sie ist ja gerade eine Wunschvorstellung. Landauer und Mühsam wussten über den Kapitalismus vor allem zu sagen, dass er ihren Idealen nicht entspricht. Die immanente Kritik, die Zusammenhänge in der gegenwärtigen Gesellschaft durchdringen, erscheint in den Augen von solchen Vertreter:innen des Anarchismus bestenfalls als Zeitverschwendung, schlimmstenfalls als Affirmation. Daher gab es auch ihrerseits viel Kritik an Marxismus, jedoch wenig Auseinandersetzung mit den Inhalt der Marxsche Thesen.
Anmerkungen
(a) OGPU (Vereinigte staatliche politische Verwaltung): Sowjetischer Geheimdienst bis 1934.
(b) Performativer Sprechakt meint, dass das Sprechen selbst eine Handlung darstellt – hier wird also das Sprechen über den Sozialismus als politische Handlung aufgefasst (Anm. d. Red.).
Verwendete Literatur
- von Beyme, Klaus (2002): Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien, Wiesbaden: Springer VS, S. 727.
- Sörensen, Paul (2023): Präfiguration. Zur Politizität einer transformativen Praxis. Frankfurt: Campus-Verlag.
- Vgl.: Kalz, Wolf (1967): Gustav Landauer. Kultursozialist und Anarchist, Meisenheim am GlanHain-Verlag; Maurer, Charles B. (1971): Call to Revolution. The Mystical Anarchism of Gustav Landauer, Detroit: Wayne State University Press; Lunn, Eugene (1973): Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer, Berkeley /Los Angeles / London: University of California Press; Wolf, Siegbert (1988): Gustav Landauer zur Einführung, Hamburg. Iunius ; Leder, Tilman (2014): Die Politik eines »Antipolitikers«. Eine politische Biographie Gustav Landauers. Bodenburg: Edition AV; Lausberg, Michael (2018): Landauers Philosophie des libertären Sozialismus; Münster: Unrast.
- Vgl.: Wolfgang Haug (1979): Erich Mühsam. Schriftsteller der Revolution, Reutlingen: Trotzdem; Kauffeldt, Rolf: Erich Mühsam zur Einführung, Hamburg: Fink Verlag; Hirte, Chris (2009): Erich Mühsam. Eine Biographie, Freiburg im Breisgau: Ahriman.
- Klaue, Magnus (2009): Wie sich Völker bilden. Das Individuum und die Gemeinschaft in der anarchistischen Theorie des 20. Jahrhunderts. In: Jungle World 21. S. 18-23.
- Mühsam, Erich (1930): Alle Macht den Räten. in: Fanal, 5 (3). Dezember 1930. S. 49-59, Hier: S. 51.
- Landauer, Gustav (1911): Aufruf zum Sozialismus. Ein Vortrag. Dritte Auflage, Berlin: Paul Cassirer, S. 42.
- Dubbels, Elke (2011): Figuren des Messianischen in Schriften deutsch- jüdischer Intellektueller 1900–1933. Berlin / Boston. De Gruyter. S. 262.
- Marx, Karl (1988): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: K. Marx/F. Engels: Werke, Band 23, Berlin: Dietz Verlag, S. 45.
- Mühsam, Erich (1927): Bismarxismus, in: Fanal, 1(5), zitiert nach Ders.: Sich fügen heißt lügen. Ein Lesebuch herausgegeben. von Marlies Fritzen. Bd.1., Göttingen: Feidl, 2003 . S. 216-222, hier: S.222.
- Bavaj, Riccardo(2005): Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik. Bonn: Dietz. S. 363.
- Mühsam, Erich (1921): Sich fügen heißt lügen. Ein Lesebuch herausgegeben. von Marlies Fritzen. Bd.1., Göttingen: Feidl, 2003. S. 199.