Kantine »Festival«

»Die Revolution ist Alltagssache« – Syndikalismus in nichtrevolutionären Zeiten


Johanna Reif

Johanna Reif hat Soziologie studiert und sich akademisch und praktisch mit der Vergangenheit und Zukunft des Syndikalismus sowie mit Gewerkschaften beschäftigt.

In den letzten Jahren erlebte der Syndikalismus ein kleines Revival. Der Grund: sein Erfolg in der Lieferbranche. Lange Zeit galten die Fahrer:innen in der plattformvermittelten Kurierarbeit für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) als »nicht organisierbar«. Dies wurde begründet mit den prekären Arbeitsbedingungen, dem hohen Anteil an Studierenden und Migrant:innen sowie insbesondere mit den hoch individualisierten Arbeitsprozessen. Entgegen dieser Erwartungen kämpfen die Beschäftigten in der Branche in ganz Europa seit 2016 für bessere Arbeitsbedingungen und höheren Lohn. Auffällig dabei: Gerade zu Beginn waren die traditionellen Gewerkschaften schwach vertreten. Diese Lücke wurde in vielen Fällen von alternativen Gewerkschaften gefüllt, oft von explizit syndikalistischen. In Deutschland nahm diese Rolle insbesondere die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) ein.

Wie kommt es, dass in einer Branche, in der alles dagegen spricht, die Beschäftigten plötzlich Arbeitskampf machen? Und noch viel interessanter: Wie kommt es, dass plötzlich die FAU so präsent ist? Der Mitteldeutsche Rundfunk interviewte FAU-Aktive als legitime Expert:innen für den Liefersektor (1), der Business Insider schrieb über die kleine, anarchosyndikalistische Gewerkschaft (2). Kurz: Der Syndikalismus war, zumindest gefühlt, präsenter als jemals zuvor in der Bundesrepublik. Ich habe mich gefragt: Warum ist das so? Hat es etwas mit syndikalistischer Theorie zu tun? Oder waren ein paar clevere Genoss:innen von der FAU einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort?

Darum also die folgenden Überlegungen. Der Text ist als Aufruf zur Diskussion zu verstehen; er weist eher auf Probleme hin, als er Antworten gibt. Aufgebaut ist er wie folgt: Zunächst gebe ich in aller Kürze einen Einblick in die syndikalistische Idee. Von ihr komme ich zur Praxis – zu den erfolgreichsten Tagen der Syndikalist:innen in Deutschland, den Hochzeiten der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). Es folgt ein zeitlicher Sprung ins Heute. Ich stelle zwei Beispiele syndikalistischer Organisierung vor: die Arbeitskämpfe im Liefersektor und die Hochschulgewerkschaft unter_bau. Sie dienen mir als Material, um die eben aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Man könnte sie auch anders formulieren: Ist die heutige syndikalistische Gewerkschaftspraxis noch verbunden mit der syndikalistischen Idee, die über ein Jahrhundert alt ist? Und kann sie es überhaupt sein in nichtrevolutionären Zeiten?

Die Prinzipien des Anarchosyndikalismus

Manche behaupten, der Anarchosyndikalismus habe seinen Ursprung bereits im anarchistischen Flügel der Internationalen Arbeiterassoziation, die 1864 gegründet wurde. Andere sehen ihn in der Confédération générale du travail (CGT), die seit 1895 besteht – und sich an eben jenem Vorläufer orientierte. Zumindest materialisierte sich die syndikalistische Idee in der CGT zum ersten Mal in Form einer Massenbewegung. Der Autor und Übersetzer Michael Halfbrodt beschreibt ihre frühen Kongresse: »Wenn es privilegierte Orte gibt, an denen sich der Syndikalismus als Theorie und Strategie, aber auch als Psychologie, allmählich verdichtet, Kontur und Gestalt annimmt, dann sind es die frühen Kongresse der CGT, lebendige Gedankenbörsen und Ideenschmieden, auch Arenen, wo die ideologischen Gegensätze mitunter heftig aufeinander prallen, aber eins nicht: bloße Abstimmungsmaschinen oder Plätze an denen der bürokratische Apparat seine Selbstgespräche führt.« (3)

Bei einem der ersten dieser Treffen im Oktober 1906 beschloss die CGT im nordfranzösischen Amiens ihre damalige Grundsatzerklärung. Diese als Charte d'Amiens in die Geschichte eingegangene Erklärung gilt als erstes und wichtigstes Manifest der syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung und war das Ergebnis einer dreitägigen, lebhaften Diskussion über das Verhältnis von Parteien und Gewerkschaften. Die Charta enthielt die wesentlichen Grundprinzipien des revolutionären Syndikalismus. Zum einen ging es den syndikalistischen Gewerkschaften, natürlich, um den Arbeitskampf – um Verbesserungen im Alltag. Die Erklärung gestand den Gewerkschaften jedoch eine doppelte Aufgabe zu. Die CGT sollte nämlich auch die »vollständige Befreiung vorbereiten, die ohne eine Enteignung der Kapitalisten nicht denkbar ist; dabei will sie sich in der Aktion auf das Mittel des Generalstreiks stützen und erkennt in der Gewerkschaft […] die zukünftige Produktions- und Verteilungsstruktur und die Basis einer gesellschaftlichen Reorganisation.« All das wollte man bewerkstelligen in »völliger Unabhängigkeit von politischen Parteien und vom Staat.« (4)

Damit wurde es nichts. Die CGT konnte sich nicht gegen den politischen Einfluss der Kommunistischen Partei Frankreichs behaupten, die in ihr ein Rekrutierungsbecken erblickte. Heute ist die CGT die zweitgrößte Gewerkschaft Frankreichs und gilt als »kommunistische Gewerkschaft« des Landes. Die zwei anarchosyndikalistischen Gewerkschaften, die beide CNT heißen, dümpeln bei Mitgliederzahlen im dreistelligen Bereich herum.

Zurück zur doppelten Aufgabe der Gewerkschaft: Das Ziel, die konkrete Lebenssituation der Arbeiter:innen zu verbessern, ist für eine Gewerkschaft kaum erklärungsbedürftig. Ganz anders ist es bei der zweiten Aufgabe: Was soll es konkret bedeuten, dass der Gewerkschaft auch die Vorbereitung und praktische Durchführung des Sozialismus obliegt?

Dabei kann Rudolf Rocker weiterhelfen. Er gilt als zentrale Figur des Anarchosyndikalismus in Deutschland. Seine Prinzipienerklärung des Syndikalismus (5) wurde 1919 als Grundsatzprogramm der FAUD angenommen. Aus ihr lassen sich mehrere Prinzipien des Anarchosyndikalismus herauslesen.

Erstens: Zwar ist der Weg das Ziel – das Ziel, der Sozialismus, darf aber nicht vergessen werden. Die Syndikalist:innen wollten nicht auf den großen Tag der Revolution warten, sondern ihr Leben selbst zum Besseren verändern. Das Zitat aus dem Titel – »Die Revolution ist Alltagssache« – besagt genau das. Dieser Ausspruch geht auf Émile Pouget zurück, der als Gründervater des revolutionären Syndikalismus gilt Die Gewerkschaften sollten die Speerspitze der Arbeiterbewegung sein und die Revolution ganz konkret durchführen. Denn, so die Überlegung, nur im ökonomischen Bereich sind die Arbeiter:innen in der Lage, ihre volle Macht auszuspielen. Die Gewerkschaften sollten deshalb »die neue Gesellschaft in der Schale der alten« errichten. Das bedeutet auch: Die Gewerkschaft sollte der Ort sein, an dem die Arbeiter:innen durch den täglichen Kampf erprobt und von sozialistischem Geist durchdrungen werden.

Darin steckt schon das nächste Prinzip: Die syndikalistische Gewerkschaft ist die Schule des Sozialismus für die Arbeiter:innen. Dies meinte keine Erziehungsdiktatur. Vielmehr ging es darum, dass sich die Arbeiter:innen mit dem technischen Management der Produktion und der Organisation des ökonomischen Lebens vertraut machen. Immerhin müssten sie in der Lage sein, diese in Gänze in ihre Hände zu nehmen und nach menschlichen Maßstäben zu gestalten. Die Gewerkschaft hatte deshalb die Aufgabe, die Arbeiter:innen weiterzubilden und zu ermächtigen, die neue, sozialistische Welt zu kreieren.

Das dritte Prinzip lautet: Die Organisation muss so aufgebaut sein, dass sie darauf ausgelegt ist, die gesamte Gesellschaft tatsächlich demokratisch verwalten zu können. Dieses Prinzip hat seinen Grund: Der Anarchosyndikalismus trat für eine Gesellschaft ein, in der alle Teile des Lebens in Selbstverwaltung, von den jeweils Betroffenen also, geleitet werden. Er lehnte die Trennung des wirtschaftlichen und des politischen Lebens ab. Daraus folgte die vehemente Kritik an zentralistischen Strukturen. Das Argument lautet also: Eine Organisation, in der nur von einer kleinen Gruppe von Kadern verbindliche Entscheidungen getroffen werden, kann nicht die Wurzel einer freieren Gesellschaft sein. Deshalb sollten syndikalistische Organisationen föderal aufgebaut sein und auf eine politische Führungsinstanz verzichten. Vertretungsstrukturen, die nicht an den Willen der Basis gebunden sind, wurden abgelehnt. Die Gewerkschaft musste eine Basisorganisation sein – bezahlten Funktionär:innen stand man skeptisch gegenüber.

Rocker griff auch den Punkt aus der Charte d'Amiens auf, dass die anarchosyndikalistische Gewerkschaft Parteien und dem Staat per se ablehnend gegenüberstehe. Deshalb der »Anarchismus« im »Anarchosyndikalismus«. Die syndikalistische Bewegung organisierte sich außer- und antiparlamentarisch. Denn, so Rocker, die politischen Rechte und die Freiheit der Menschen würden nicht durch die Parlamente erworben – sie würden den Parlamenten von außen aufgezwungen.

Das Entstehen des Syndikalismus beschrieb Rocker als Reaktion der Arbeiter:innen auf die Feststellung, dass die Teilhabe an der Politik der Nationalstaaten sie kein bisschen näher zum Sozialismus gebracht habe. Und er fügte hinzu: »Was aber am allerschlimmsten ist: sie beraubte die Menschen ihrer Initiative, indem sie ihnen vortäuschte, dass das Heil immer von oben kommt.« (6) Die syndikalistische Gewerkschaft sollte dazu eine Alternative bieten. Der Idee nach lebte sie von der Kreativität, Selbsttätigkeit und Spontaneität ihrer Mitglieder. Das Ideal der Selbstverantwortlichkeit bestimmte die Weise, in der die Syndikalist:innen den Kampf um die befreite Gesellschaft führten. Sie gingen davon aus, dass die Arbeiter:innen nicht nur das Recht, sondern auch die Möglichkeit, Fähigkeit und Kraft haben, jederzeit kollektiven Widerstand zu leisten. Ob sie dies tun, sei von keiner politischen Führung abhängig, sondern von ihrem Bewusstsein.

Das Vertrauen der Syndikalist:innen in die Selbsttätigkeit der Arbeiterbewegung spitzt sich im Begriff der »Direkten Aktion« zu. Zwar erklärte Pouget: »Direkte Aktion ist ein Konzept von solcher Klarheit, von solch offenkundiger Selbstverständlichkeit, dass die Erklärung und Definition in ihren Worten selbst liegt.« (7) Ein paar Worte sollte man dennoch zu ihr verlieren: Prinzipiell meint die »Direkte Aktion« kollektive Aktionen in der Arbeitswelt, die sich, im Gegensatz zu Verhandlungen, direkt auswirken. Sie ist ein Mittel, die eigenen Interessen zu verteidigen, ohne auf vermittelnde Instanzen zu setzen. Worin die »Direkte Aktion« genau besteht, ist Sache der Arbeiter:innen. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Historisch waren Streik, Boykott und Sabotage häufige Beispiele. Die wichtigste »Direkte Aktion« war für die Syndikalist:innen aber unumstritten: der Generalstreik. Pouget sah in ihm den Moment, in dem die arbeitende Bevölkerung die Kontrolle über die Produktion erringt.

Zusammenfassend – und etwas vereinfacht – lassen sich fünf Prinzipien der historischen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft festhalten:

  1. Sie will die Lebenssituation der Arbeiter:innen durch konkrete Arbeitskämpfe verbessern.
  2. Sie will den Sozialismus erringen und die Organisation sein, die sowohl die Transformation als auch die künftige Gesellschaft organisiert.
  3. Sie muss die Schule des Sozialismus für die Arbeiter:innen sein.
  4. Sie hält größte Distanz von Staat und Parteien, seien diese auch vermeintlich sozialistisch.
  5. Sie setzt auf die Selbsttätigkeit und Kreativität der Arbeiter:innen und die »Direkte Aktion« zur Durchsetzung ihrer Interessen.

So viel zur Idee des Anarchosyndikalismus. Wie war es aber in der Praxis? Ich komme zur historischen Massenorganisation des Syndikalismus in Deutschland.

Die FAUD: Praxis zur Hochzeit der syndikalistischen Gewerkschaften

Die wichtigste deutsche anarchosyndikalistische Gewerkschaft war die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Sie wurde 1919 durch den Zusammenschluss der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften mit einer Reihe kleinerer Gewerkschaften gegründet. Von Beginn an war die FAUD eine Massenorganisation – bereits am Gründungskongress in Berlin nahmen 160 Ortsvereine teil. Insgesamt vertraten sie über 110.000 Mitglieder, deren Anzahl bis 1921 auf etwa 150.000 anwachsen sollte.

Die folgenden Überlegungen zum historischen Syndikalismus beruhen größtenteils auf der sehr lesenswerten Studie der Historikerin Jule Ehms über die Betriebsarbeit der FAUD (8). Sie zeigt, wie sich die Ideen des Syndikalismus – darunter Basisdemokratie und Föderalismus – in der Struktur der FAUD niedergeschlagen haben. Im Programm der FAUD wurde festgehalten, dass jede Föderation, ob auf Landes- oder auf Industrieebene, und jeder Ortsverein in allen Fragen vollkommenes Selbstbestimmungsrecht besitzt. Zudem mussten alle Beschlüsse, soweit das nur irgend möglich war, von denjenigen ausgehen, die sie auszuführen hatten.

Der Verbandsaufbau sah eine Doppelstruktur aus Industrieföderationen und Arbeiterbörsen vor. Erstere waren ein Zusammenschluss aller Berufszweige und sollten die Produktion organisieren. Die Arbeiterbörsen waren für den Bereich der Konsumtion zuständig. Sie sollten nach der Revolution das Gegenstück zum Staat sein und die Wirtschaft nach den Bedürfnissen der Menschen planen. Die Arbeiter:innen sollten sowohl in die Industrieföderationen als auch in die Arbeiterbörsen eingebunden sein. Abseits von regulären Mitgliedern sah die Struktur nur Mitglieder der Geschäftskommission und Funktionär:innen mit verwaltenden Aufgaben vor. Niemand von ihnen war mit dem Mandat ausgestattet, politische Inhalte zu bestimmen.

Man ahnt schon: Die Ansprüche an den Zeitaufwand waren hoch. Wie hoch, wird deutlich an folgender Überlegung von Franz Barwich, damals Mitglied der Geschäftskommission der FAUD. Nicht zu vergessen – es wurde noch an sechs Tagen in der Woche gearbeitet:

»So könnte z.B. ein für alle mal festgelegt werden: Montag und Dienstag Körperschaftssitzungen, Mittwoch und Donnerstag Bezirksversammlungen, gemeinsame Mitglieder- und Betriebsobleuteversammlungen sowie öffentliche Agitationsversammlungen, Freitag die Monatsversammlungen der Organisationen, Sonnabends und Sonntag die Veranstaltungen des Bildungsausschusses, des Jugendausschusses und alle künstlerischen und unterhaltenden Veranstaltungen. Neben den selbstständigen Sitzungen der einzelnen Körperschaften der Arbeiterbörse müssen natürlich zur Aufrechterhaltung der Gemeinsamkeit und Regelung der gemeinsamen Arbeit vielleicht alle Monate einmal ›gemeinsame Börsensitzungen‹ stattfinden…« (9) Allein Barwichs Anspruch macht deutlich, dass Basisdemokratie auch vor einem Jahrhundert sehr zeitaufwendig war.

Es gab Fälle, in denen die basisdemokratischen und föderalen Ideale der FAUD nicht gelebt wurden. Zum Beispiel ist dokumentiert, dass Mitglieder aufgrund ihrer politischen oder privaten Überzeugungen aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wurden – dafür reichte es manchmal, Parteimitglied zu sein oder seine Religion nicht ablegen zu wollen. Auch wurden, gar nicht föderal, ganze Verbände von den Geschäftskommissionen gerügt. Hin und wieder soll sich auch eine Oligarchie in der syndikalistischen Führung gebildet haben.

Dennoch kommt Ehms zu dem Schluss, man könne der FAUD nicht unterstellen, sie habe ihren basisdemokratischen Anspruch nicht eingelöst. Schwierigkeiten gab es viele – diese wurden aber intensiv diskutiert. Über die Herausforderungen der Gewerkschaft wurde ständig debattiert, man arbeitete mit Urabstimmungen und Konferenzen. Die innerverbandliche Opposition zur FAUD-Spitze konnte sich organisieren – und wurde nicht ausgeschlossen, wie es bei anderen Linken zur selben Zeit üblich war. In der Zeitschrift der FAUD, die den Namen Der Syndikalist trug, wurde hitzig diskutiert. Auch Minderheitenpositionen fanden in ihr Platz.

Der größte Konflikt in der Gewerkschaft drehte sich um die Frage, ob man an Betriebsratswahlen teilnimmt. Trotz vieler Kongresse und Diskussionen ließ sich die Frontenbildung einfach nicht auflösen. Die Gegner:innen der Betriebsratsarbeit waren der Meinung, dass Betriebsräte prinzipiell der syndikalistischen Idee widersprächen, auf Vertretungsstrukturen zu verzichten. Sie betonten außerdem den stabilisierenden Charakter der Betriebsräte. Die Befürworter:innen argumentierten dagegen, dass man die Betriebsräte brauche, um die Lebenssituation der Mitglieder zu verbessern. Man entfremde sich von der Arbeiterklasse, wenn man auf diese Möglichkeit der Teilhabe verzichte. Zwischen beiden Seiten war keine Vermittlung möglich, die Gewerkschaft konnte sich in dieser Frage nie entscheiden. Daher beschloss sie immer wieder, es den einzelnen Verbänden zu überlassen, ob sie zu Betriebsratswahlen antreten oder nicht. Bis in die 30er-Jahre blieb es dabei: Einige Syndikate traten an, andere nicht. Auch dies kann man als Beleg für den Föderalismus der FAUD werten.

Die umfassende soziale Absicherung ihrer Mitglieder lehnte die FAUD ab. Damit nehme man nur dem bürgerlichen Staat Aufgaben ab und trage so zu seinem Erhalt bei, hieß es. Außerdem befürchtete die Gewerkschaft, dass sich die Kolleg:innen ihr nicht mehr aus Überzeugung anschließen würden, sondern wegen der Versicherungsleistungen. Vermutlich hatte die Entscheidung jedoch nicht nur ideologische, sondern auch finanzielle Gründe: Die FAUD war die Gewerkschaft derer, die wenig hatten. Dass die Mitgliedsbeiträge niedrig blieben, war wichtig, um Arbeiter:innen von einer Mitgliedschaft zu überzeugen.

Zwar trat die FAUD stets prinzipiell für den Generalstreik ein; sie hat aber nie zu politischen Massenstreiks aufgerufen. Sie konzentrierte sich auch im Alltag auf die unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter:innen. Ihrer grundsätzlichen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft verliehen die Syndikalist:innen in konkreten Arbeitskämpfen Ausdruck. Diese begleiteten sie inhaltlich mit Versammlungen, Flugblättern und einer mehr oder weniger umfassenden Berichterstattung in ihrer Zeitung Der Syndikalist. Arbeitskämpfe wurden in der Regel aber nicht als Mittel politischer Agitation gesehen, wie es unter Kommunist:innen üblich war. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die FAUD kaum zu Streiks aufrief, wenn die Erfolgschancen unklar waren. Sie ging überlegt in betriebliche Auseinandersetzungen und bewies Gespür für tatsächliche Handlungsspielräume. Dadurch konnte die FAUD einige sehr erfolgreiche Arbeitskämpfe führen.

Die FAUD: Gründe für ihren Erfolg

Ich habe bereits betont, dass der Syndikalismus mit der FAUD erstmals eine Massenbasis in Deutschland fand. Wie kam es dazu? Ehms sammelt verschiedene Erklärungen, die in der Wissenschaft für den Erfolg der FAUD geboten werden (10). Auf zwei davon gehe ich nun ein.

Die erste Erklärung stellt die zweite industrielle Revolution in den Mittelpunkt, die in den 1870er-Jahren einsetzte. Sie ging einher mit einer Dequalifizierung der Arbeiter:innen. In dem Maße, in dem die Produktion immer weiter rationalisiert und die großbetriebliche Massenfertigung zum Standard wurde, bedurfte es immer mehr ungelernter Arbeiter:innen in der Industrie. Den bestehenden Berufsgewerkschaften gelang es oft nicht, auf diese strukturelle Veränderung der Arbeitswelt zu reagieren. Das heißt konkret: Sie waren nicht in der Lage, die ungelernten Arbeiter:innen zu integrieren. Ihre diskontinuierlichen Lebensläufe und unsicheren Zukunftsaussichten waren der Grund, warum ihnen unmittelbare Erfolge in betrieblichen Kämpfen besonders wichtig waren. Die FAUD kam für sie wie gerufen: Sie unterstützte die Konfliktbereitschaft der ungelernten Arbeiter:innen und stand prinzipiell allen Beschäftigten offen.

Die zweite Erklärung hängt eng mit diesem Punkt zusammen: Die FAUD war unionistisch strukturiert, das heißt alle Wirtschaftssektoren waren in einer einzigen Gewerkschaft vereint. Dadurch war sie attraktiv für unstete Arbeiter:innen, also für all jene, die häufig ihren Arbeitsplatz wechselten. Und von ihnen gab es in der Frühzeit der Weimarer Republik ganz schön viele. Die Berufsgewerkschaften waren auf diese Situation schlecht vorbereitet. Oft hätten die unsteten Arbeiter:innen bei jedem Arbeitsplatzwechsel auch die Gewerkschaft wechseln müssen. Die FAU hatte also, dank ihrer Struktur, wieder einen großen Vorteil gegenüber den Berufsgewerkschaften. Auf diesen Punkt komme ich noch zurück.

So erfolgreich die FAUD dank all dem zeitweise war – mit der Revolution wurde es nichts. Ab 1923 schrumpfte die FAUD stark. Ihr Einfluss ging über die Jahre merklich zurück; Anfang des Jahres 1933 zählte sie noch rund 6.000 Mitglieder. Die Massenorganisation war zu einer Sekte geschrumpft. Noch bevor Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, löste sich die FAUD auf, um ihr Vermögen zu sichern und in der Illegalität weiterarbeiten zu können. Am 2. Mai 1933 wurden schließlich alle Gewerkschaften zerschlagen. Sie wurden ersetzt durch die Deutsche Arbeitsfont – die Volksgemeinschaft aus Kapital und Arbeit.

Die FAU: Ihr heutiger Erfolg in der Lieferbranche

Ich springe ins Heute: Zwar sind 150.000 Mitglieder in einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft derzeit undenkbar. Dennoch lässt sich, würde ich behaupten, in den letzten Jahren ein kleines Revival des Syndikalismus beobachten. Die Frage, wie sich die heutigen syndikalistischen Gewerkschaften zu den Prinzipien des Syndikalismus und der Praxis der FAUD verhalten, verhandle ich an zwei Beispielen: an den Arbeitskämpfen in der Lieferbranche, die von der FAU unterstützt wurden, sowie an der Hochschulgewerkschaft unter_bau.

Ich habe es eingangs erwähnt: Seit Jahren kämpfen Beschäftigte in der Lieferbranche in ganz Europa für bessere Arbeitsbedingungen. Die FAU ist Teil der internationalen Kampagne »#deliverunion« und war eine Weile lang selbstverständliche Ansprechpartnerin für Medien und Beschäftigte bei allen Fragen rund um plattformvermittelte Kurierarbeit. Wie stark die FAU zeitweise war, zeigt sich auch daran, dass sich der Lieferdienst »Foodora« 2017 bereit erklärte, in Tarifverhandlungen mit der FAU zu treten. Sie scheiterten zwar – allein schon, dass die FAU überhaupt mit einem so großen Unternehmen verhandelte, belegt aber rückblickend ihre Stärke. Höhepunkt der Auseinandersetzung in Deutschland waren die wilden Streiks bei »Gorillas« im Frühling und Herbst 2021. Ausgerufen wurden sie vom basisdemokratischen »Gorillas Workers Collective«, das von der FAU unterstützt wurde. Das Unternehmen sprach den beteiligten Fahrer:innen daraufhin Kündigungen aus. Insgesamt wurden 350 Beschäftigte entlassen. Die DGB-Gewerkschaften hatten sich dagegen entschieden, den wilden Streik zu unterstützen; die Zusammenarbeit mit der FAU war eng. Inzwischen hat die FAU ihre Stärke bei den Essenslieferdiensten größtenteils wieder eingebüßt. Die meisten Beschäftigten der Branche haben sich der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) angeschlossen. Beide sind Teil des DGB.

Ich habe für ein Forschungsvorhaben mit mehreren Betriebsratsmitgliedern aus der Branche gesprochen. Sie berichteten von den Erfolgen und von den Herausforderungen der Gewerkschaften im Liefersektor. Bei den folgenden Überlegungen sollte man nicht vergessen: Die FAU ist föderal organisiert; vieles unterscheidet sich von Stadt zu Stadt und kann mancherorts ganz anders sein als es mir berichtet wurde.

Mir fiel auf, wie ähnlich sich die Erklärungen für den Erfolg der FAU und den der historischen FAUD sind. Zur Erinnerung: In der FAUD organisierten sich vor allem ungelernte, unstete Arbeiter:innen. Mit der Plattformökonomie – und zu der gehören die Lieferdienste – ist ein neues Prekariat entstanden. Die Fahrer:innen klagen unisono über unsichere Arbeitsbedingungen, hohes Verletzungsrisiko, schlechte Bezahlung, Stress, mangelhafte Ausstattung – und manchmal wird ihnen auch einfach der Lohn vorenthalten. Möglich sind solch furchtbare Arbeitsbedingungen nur, weil die Fahrer:innen leicht austauschbare Arbeitskräfte sind. Man braucht keine besonderen Qualifikationen, um Essen zu transportieren. Die App, mit der gearbeitet wird, gibt es in mehreren Sprachen. Sie vermittelt den Fahrer:innen alle notwendigen Informationen, von der Strecke bis zum Preis. Im Prinzip müssen die Fahrer:innen kein einziges Wort mit den Kund:innen sprechen – also auch kein Deutsch oder Englisch beherrschen. Die Parallele zur Dequalifizierung im frühen 20. Jahrhundert ist augenfällig.

Weil die Arbeit so vereinfacht worden ist, lassen sich die Beschäftigten besonders gut ausbeuten. Die Betriebsratsmitglieder berichten, dass viele Fahrer:innen sehr dankbar seien, überhaupt einen Job zu haben. Denn schlechte Deutschkenntnisse oder ein vorheriger Gefängnisaufenthalt steigern die Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht gerade. Deshalb sei es schwierig, die Beschäftigten zum Arbeitskampf zu motivieren – sie fürchten, viel zu verlieren.

Eine weitere Schwierigkeit für den Arbeitskampf waren lange die formalen Arbeitsverhältnisse. Dass es in der Lieferbranche Festanstellungen gibt, ist eine recht junge Entwicklung. Bei den meisten Unternehmen waren und sind die Fahrer:innen scheinselbständig. Das heißt, die DGB-Gewerkschaften können keine Tarifabschlüsse erkämpfen – der klassische Weg des Arbeitskampfes ist damit verstellt. Der FAU war das relativ egal. Sie hat die Leute organisiert und unterstützt, egal wie ihr Arbeitsverhältnis formal aussah.

Bei den Lieferdiensten gibt es eine riesige Fluktuation an Fahrer:innen – ein bisschen wie bei den unsteten Arbeiter:innen im 20. Jahrhundert. Ein Betriebsrat erzählte mir, dass in seiner Stadt die Leute durchschnittlich nur vier Monate lang für das Unternehmen arbeiten. Der Job ist eine Nebenbeschäftigung, kaum jemand macht ihn auf Dauer. Und die Arbeitsbedingungen sind dabei so schlimm, dass sich möglichst schnell etwas ändern muss. Für die allermeisten ist es darum keine Option, jahrelang auf einen Tarifvertrag zu warten. Es geht vielmehr um sofortige Verbesserungen. Dafür bietet sich die »Direkte Aktion« an. Der Syndikalismus hat also das passende Mittel parat für die Probleme der Arbeiter:innen in der Lieferbranche.

Ein Beispiel: Ein Mitglied eines Betriebsrats erzählte mir, wie zehn Personen in die Niederlassung des Unternehmens marschierten und ein Forderungsschreiben vorlegten. Sie forderten bessere Handschuhe, Diensthandys, Arbeitskleidung und Handyhalterungen. Das Mitglied dazu: »Das hat auch geklappt. Handyhalterungen waren schnell da, Handschuhe waren nach zwei Wochen da. Dann haben wir gesagt: Das reicht uns nicht und dann haben wir es halt eskalieren lassen.« Gemeinsam mit der FAU haben die Fahrer:innen eine Demonstration mit 100 Leuten organisiert. Am Ende gab es sogar Thermokleidung. Der Betriebsrat hat diese Situation als sehr selbstermächtigend wahrgenommen: »Und wo die Leute dann wirklich gelaufen sind, als wären wir die Vorgesetzten, weil halt einfach diese Macht da war. Diese direkte Aktion, das war sehr gut, sehr schön.«

Im Gegensatz dazu sei das große Problem an den Arbeitskämpfen, die man mit dem DGB führt, ihre Langatmigkeit. Wenn die Kolleg:innen keine direkten Erfolge sehen, dann sei es schwer, sie davon zu überzeugen, Gewerkschaftsmitglied zu werden. Die Mitgliedschaft sei dann für sie einfach zu teuer. Auch hier drängt sich die Parallele zur historischen FAUD auf, die die Gewerkschaft der Ärmsten war.

Sie war auch die Gewerkschaft derer, die häufig den Arbeitsplatz wechselten. Bei den Berufsgewerkschaften hätten sie deshalb mitunter die Gewerkschaft wechseln müssen – in der unionistischen FAUD war das nicht nötig. Und wieder die Neuauflage: Anfangs war nicht klar, welche der DGB-Gewerkschaften für den Liefersektor zuständig ist. Mittlerweile sind es ver.di und die NGG – je nachdem, was genau geliefert wird. Die Aufteilung des Liefersektors zwischen den Schwestergewerkschaften ist ein Problem: Viele Fahrer:innen haben schon für verschiedene Lieferunternehmen gearbeitet – und jeweils wäre eine andere Gewerkschaft für sie zuständig (gewesen). Zudem identifizieren sich die Leute selbst als »Rider«. Sie haben einen starken emotionalen Bezug zu den Beschäftigten anderer Lieferdienste. Das wurde bei den wilden Streiks bei »Gorillas« deutlich, die von den Fahrer:innen anderer Unternehmen sehr aufmerksam verfolgt und zum Teil unterstützt wurden. Angesichts dessen ist es ein Vorteil der FAU, dass sie eine gemeinsame Gewerkschaft für alle Lieferant:innen ist. Hinzu kommt: Viele, die in diesem hochflexibilisierten, prekären Sektor arbeiten, haben mehrere Jobs gleichzeitig. Auch dann ist es ein Vorteil, dass sich die FAU für jeden möglichen Arbeitsplatz zuständig fühlt. Ein Betriebsratsmitglied formulierte das mir gegenüber so: »Wir sind nicht mehr in dieser Zeit: ein Leben, ein Job, Vollzeit.«

Ich fasse diesen Teil zusammen: Der Erfolg der FAU scheint kein Zufall zu sein. Die Organisierung der Fahrer:innen in der Lieferbranche gelang aus denselben Gründen, die einst die Stärke der FAUD ausmachten – unter anderen historischen Bedingungen, die sich dennoch ähnlich sind. Nach wie vor sind die Stärken der syndikalistischen Gewerkschaft der leichte Zugang zu ihr, die branchenübergreifende Organisierung und die »Direkte Aktion« als Arbeitskampfmethode, die kurzfristige Verbesserungen möglich macht.

Die FAU: Probleme des heutigen Syndikalismus

Nach den Erfolgen kommen die Schwierigkeiten. Einige der Herausforderungen, die sich in den gewerkschaftlichen Kämpfen in der Lieferbranche ergeben haben, stelle ich nun nacheinander dar.

Alle meine Gesprächspartner:innen aus der Lieferbranche, die in der FAU organisiert sind, sind auch Mitglied in einer DGB-Gewerkschaft. Ausschlaggebend dafür ist insbesondere die Rechtsschutzversicherung. Jemand, der sowohl bei der NGG als auch bei der FAU Mitglied ist, erzählte mir: »Ich würde ja auch mit der FAU klagen, aber da ist halt ganz klar: Die müssen dann einen Anwalt extra bezahlen und dann ist da ein großer Teil des Monats- oder Jahresbudgets weg. Deswegen mache ich das nicht«. Die Begründung ist keine ideologische, sondern eine rein finanzielle. Syndikalistische Gewerkschaften müssen sich deshalb fragen: Inwiefern können sie überhaupt selbst größere Arbeitskämpfe führen, wenn die Beschäftigten im Zweifel doch wieder auf die Struktur des DGB zurückgreifen? Denn ich vermute: Sobald die FAU eine reale Bedrohung für die DGB-Gewerkschaften darstellen würde, wäre es schnell vorbei mit der Möglichkeit zur Doppelmitgliedschaft.

Gar nicht so einfach ist die Frage nach der Selbsttätigkeit bei den Kämpfen der FAU. Das mag im ersten Moment überraschen. Ich hole darum etwas aus: Zwischen den DGB-Gewerkschaften und der FAU gibt es einen riesigen Unterschied darin, wie man auf Presse und Öffentlichkeit blickt. Ein FAU-Mitglied aus der Lieferbranche meinte zu mir, Social Media und Pressearbeit seien Formen des Arbeitskampfs. Die mittlerweile verbesserten Arbeitsbedingungen, sagte er weiter, seien auch der Presse zu verdanken. Darum hält er der NGG und ver.di vor, dass sie kein Interesse an öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen hätten. Diejenigen, die dem DGB näherstehen, kritisieren genau das an der FAU – ihren Fokus auf Öffentlichkeit. Ich zitiere einen Betriebsrat: »Diese Aktionen, die sorgen für schöne Presseartikel, die bei einer linksliberalen Leserschaft gut ankommen. Die haben aber mit den Lebensbedingungen bzw. der Lebensrealität der Leute nicht so viel zu tun.«

Damit zusammen hängt eine sehr unterschiedliche Bewertung der Unterstützung von außen. Ein Mitglied der FAU berichtete mir von einer öffentlichkeitswirksamen Aktion, bei der ein Großteil der Mitstreiter:innen gar nicht beim betreffenden Unternehmen gearbeitet haben. Es waren einfach solidarische FAU-Mitglieder. Auch die größeren Ansprachekampagnen wurden von Linken unterstützt, die selbst keine Fahrer:innen waren. In manchen Städten haben die Leute ganz bewusst Arbeitskampf in Betrieben gemacht, in denen sie nicht selbst arbeiteten, damit sie keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen befürchten mussten. Mehrere NGG-Mitglieder kritisierten mir gegenüber genau das. Sie betonten, dass die FAU weit weg sei von der Lebensrealität der Menschen. In dieser Sache bin ich selbst unsicher: Geht es noch um Selbsttätigkeit in der »Direkten Aktion«, wenn man auf Unterstützung von außen setzt? Macht man die Aktion dann noch selbst? Führt das die Idee des Syndikalismus nicht ad absurdum? Auf der anderen Seite: Ist es nicht etwas Gutes, wenn man Kolleg:innen in anderen Betrieben unterstützt? Ist nicht genau das praktische Solidarität? Und was fängt man eigentlich damit an, dass die DGB-affinen Leute stärker auf die Basisorganisation im Betrieb pochen als die FAU-Mitglieder?

Eine weitere Schwierigkeit trägt der Anarchosyndikalismus seit nunmehr über hundert Jahren mit sich herum: Geerbt von der FAUD hat die FAU den Konflikt, was von Betriebsräten zu halten ist. Die Auseinandersetzung darüber, ob man an Betriebsratswahlen teilnimmt, wird in manchen Städten hart geführt. Ein FAU-Mitglied erzählte mir: »Es gibt da so eine dominierende Erzählung, die sehr betriebsratsfeindlich ist. Die wird aufrechterhalten von einigen wenigen. Die dominieren aber den Diskurs. Aber es gibt halt Anarcho-Macker – und das sind nicht nur Typen. Ich habe es auch selber persönlich mitbekommen, wie die irgendwelche Leute indoktrinieren: Nee, lass mal sein mit Betriebsrat.«

Wenn die FAU keine Massenbasis hat, dann muss sich jeder, der sich gegen die Beteiligung an Betriebsräten stellt, Gedanken darüber machen, was er den Arbeiter:innen anzubieten hat. Welche anderen Formen von betrieblichem Kampf stellt man sich vor? Was sind die Folgen dessen, dass man Betriebsratsarbeit aus abstrakten Überlegungen heraus ablehnt? Die alte Diskussion aus der FAUD wird so wieder aktuell: Was hält man für das größere Problem? Dass der Betriebsrat eine Vertretungsstruktur ist und die kapitalistische Gesellschaft stabilisiert? Oder dass man sich von den Arbeiter:innen entfremdet, weil man die Chance nicht nutzt, konkrete Verbesserungen für sie durchzusetzen?

Ich habe in diesem Teil bisher verschiedene Fragen aufgeworfen. Die wichtigste Frage, die sich Syndikalist:innen heute stellen sollten, scheint mir indes eine andere zu sein. Ich hole dafür wieder etwas aus: Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die FAU immer dann erfolgreich ist, wenn der DGB noch nicht aktiv ist. Das zeigen auch andere Arbeitskämpfe, etwa die Unterstützung der ausländischen Arbeiter:innen bei »Spargel Ritter«. Die FAU ist hervorragend darin, die Lücken des DGB aufzuzeigen und für eine gewisse Zeit selbst zu füllen. Sobald sich aber der DGB dieser Lücken annimmt – und das tut er, gerade weil sie dank der FAU öffentliche Aufmerksamkeit erhalten –, verliert die FAU wieder an Relevanz. Im Liefersektor hat sich die NGG vor einigen Jahren dazu entschieden, die Fahrer:innen mit vielen Ressourcen zu unterstützen. Die Selbstorganisation der Beschäftigten wurde massiv gefördert; man hat die Leute machen lassen. Den angestrebten Tarifabschluss mit »Lieferando« gibt es bisher zwar immer noch nicht (Stand: Februar 2024), aber in vielen Städten fanden schon Warnstreiks der NGG statt. Und ich habe es schon erwähnt: Der Einfluss der FAU ist inzwischen eher gering.

Die Frage ist also: Kann der Syndikalismus heute eine andere Aufgabe übernehmen, als diejenigen Bereiche der Wirtschaft zu organisieren, für die der DGB zu träge ist? Das hat bisher zweifellos sehr gut funktioniert. Ich bin überzeugt, dass die Beschäftigten im Liefersektor ohne die Vorarbeit der FAU heute lange nicht so gut von der NGG und ver.di vertreten werden würden. Aber: Sind Syndikalist:innen mit dieser Aufgabenbeschreibung einverstanden? Wenn ja, dann sollten sie aus den Erfahrungen der letzten Jahre lernen und sich auf die Suche machen nach den Kämpfen von Morgen. Wenn nein – wenn sie also darauf bestehen, dass eine syndikalistische Gewerkschaft die Aufgabe hat, das Kapital abzuschaffen –, dann müssen sie sich weiter fragen: Wie soll es syndikalistischen Gewerkschaften mit ihren sehr begrenzten Ressourcen gelingen, sich in Betrieben zu etablieren, die auch für die DGB-Gewerkschaften mit ihren riesigen Apparaten interessant sind? Und das in einer Zeit, die keine radikale Arbeiterbewegung kennt.

Hochschulgewerkschaft unter_bau: Probleme der Professionalisierung

Ich komme zu meinem zweiten Beispiel: der Hochschulgewerkschaft unter_bau, die es an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main seit 2016 gibt. Unter_bau hat sich zum Ziel gesetzt, eine statusgruppenübergreifende Gewerkschaft zu sein. Das heißt: Die Beschäftigten der Universität, die Beschäftigten externer Dienstleister und die Studierenden sollen sich gemeinsam organisieren. Langfristig strebt unter_bau eine syndikalistische Transformation der Universität an. Natürlich ist er keine Massenorganisation, aber er dürfte mit Abstand die mitgliederstärkste Gewerkschaft an der Frankfurter Universität sein.

Im Strategiepapier aus Gründungszeiten wurde beschrieben, wie unter_bau durch gewerkschaftliche Bildung, Hochschulpolitik und Arbeitskämpfe die prekären Arbeits- und Studienbedingungen an der Goethe-Universität verbessern will. Gleichzeitig betonte die Hochschulgewerkschaft, dass sie zur Erreichung ihrer Ziele darauf setze, neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Durch diesen Ansatz unterscheide sich unter_bau, so hieß es im Strategiepapier, von »etablierten Gewerkschaften, die über dröge Tarifrituale bisher nicht hinauskommen, genauso wie von zersplitterten Politikgruppen.« (11)

Die Organisation ist wie folgt aufgebaut: Es gibt es eine Allgemeine Assoziation, die alle Status- und Beschäftigtengruppen umfasst. Das Sekretariat der Allgemeinen Assoziation führt deren Beschlüsse aus, die auf Vollversammlungen getroffen werden. Unterhalb der Allgemeinen Assoziation gibt es Plattformen für die verschiedenen Gruppen an der Universität: die Plattform für Studentische Hilfskräfte und Studierende, die Plattform für Promovierende, wissenschaftliche Mitarbeiter:innen und Lehrbeauftragte sowie die Plattform für administrativ-technische Beschäftigte.

Bereits mit der Gründung des unter_bau wurde zudem eine feministische Struktur etabliert, in der sich alle Frauen, die Mitglied der Gewerkschaft sind, organisieren können: die Frauen*-Vollversammlung – seit 2023: FLINTA*-Vollversammlung. Sie hat das Recht, alle Beschlüsse der Gewerkschaft aufzuschieben. Und sie ist wesentlich dafür verantwortlich, dass unter_bau – für eine Gewerkschaft – nicht allzu sehr von Männern dominiert wird. Die frauenspezifischen Strukturen bieten einen niedrigschwelligen Einstieg in die Gewerkschaftsarbeit. Ihre Treffen haben stärker den Charakter eines netten Zusammenkommens; es gibt von Zeit zu Zeit auch kulturelle Veranstaltungen.

Es zeigt sich: Der Aufbau des unter_bau ist eng an die basisdemokratischen Prinzipien des Syndikalismus angelehnt. Und in der Praxis funktioniert das auch sehr gut – für die studentischen Strukturen. Denn Basisdemokratie ist extrem zeitaufwendig. Die Plattform, die die ganze Gewerkschaft maßgeblich bestimmt, ist die der Studentischen Hilfskräfte und Studierenden. Engagierte und (noch mehr) interessierte Mitglieder gibt es zwar auch bei den anderen Plattformen; lebhafte Selbstverwaltungsstrukturen haben sich aber vor allem unter den studentischen Mitgliedern gebildet. Bei den Vollversammlungen der Gewerkschaft sind die Student:innen zudem überrepräsentiert. Denn obwohl die Vollversammlungen gut organisiert sind und produktiv ablaufen, dauern sie bis zu fünf Stunden. Für Vollzeitbeschäftigte mit Kindern ist das ein Ding der Unmöglichkeit – selbst wenn gemeinsames Abendessen und Kinderbetreuung angeboten werden. Mir scheint, dass es nach wie vor keine Konzepte dafür gibt, wie man Basisdemokratie und Professionalität in syndikalistischen Gewerkschaften zusammenbringt. Diese braucht es aber, wenn man Genoss:innen mit wenig Zeit die Möglichkeit geben will, sich zu engagieren.

Arbeitskämpfe hat unter_bau bereits geführt – die Selbsttätigkeit der Leute zu entwickeln, ist dabei aber nicht immer gelungen. Beispielsweise hat unter_bau eine Reinigungsfachkraft vertreten, die für einen externen Dienstleister arbeitete. Sie wurde unrechtmäßig entlassen und klagte dagegen. Die Verhandlung endete mit einem Vergleich, also relativ erfolgreich. Engere Kontakte der Gewerkschaft zum Reinigungspersonal haben sich daraus aber nicht ergeben. In diesem Fall war es das klassische Spiel: Linke Akademiker:innen unterstützen eine Person, die es weniger gut hat.

Seit spätestens 2022 ist das Hauptanliegen des unter_bau der Kampf für einen Tarifvertrag für Studentische Beschäftigte (TVStud). Die Kampagne dafür heißt »Goethe braucht Tarif!« und arbeitet eng mit der bundesweiten TVStud-Kampagne zusammen. Teil der Kampagne war einerseits die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen – vor allem höheren Lohn und längere Vertragslaufzeiten wollte man erringen. Andererseits setzte man sich auch für eine Personalvertretung der Studentischen Beschäftigten ein. Diese wurde 2023, durch eine Novelle des Hessischen Personalvertretungsgesetzes, mit dem »Hilfskräfterat« in einer Light-Variante eingeführt. Von der syndikalistischen Skepsis gegenüber Betriebs- und Personalräten gibt es bei unter_bau keine Spur.

Die Konzentration auf den TVStud bedeutet für unter_bau, dass er sowohl bundesweit als auch an der Goethe-Universität Frankfurt mit ver.di und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zusammenarbeitet. Das hat die eigenartige Konsequenz, dass unter_bau zwar in der bundesweiten Kampagne so gut wie gar nicht wahrgenommen wird, dafür in Frankfurt aber viel sichtbarer ist als die beiden DGB-Gewerkschaften. Im Rahmen seiner Kampagne für einen TVStud betreibt unter_bau seit längerem strukturiertes Organizing und beschäftigt seit Oktober 2023 sogar mehrere Organizer:innen auf Minijobbasis. In Folge dessen sind die Mitgliederzahlen stark angestiegen. Für eine Basisorganisation ist diese Situation kompliziert: Auf einmal gibt es zahlreiche Mitglieder, die kein Interesse daran haben, sich in die Basisarbeit einzubringen. Wie man mit dieser Schwierigkeit umgeht, dürfte für die Zukunft entscheidend sein. Unter_bau ist ein aufschlussreicher Fall, weil man an ihm beobachten kann, wie sich eine syndikalistische Gewerkschaft zu professionalisieren versucht – und dabei einen Weg finden muss, die syndikalistischen Prinzipien mit der Gegenwart zu vermitteln.

Zum Abschluss: Man kann das Problem der Professionalisierung auch von einer ganz anderen Seite betrachten. Der Sozialwissenschaftler Torsten Bewernitz hat einmal auf einer Podiumsdiskussion in Frankfurt bemerkt, dass die DGB-Gewerkschaften selbst wüssten, dass sie sich syndikalisieren müssen, um auf die flexibilisierten Arbeitsverhältnisse zu reagieren. Deshalb würden sie seit Jahren verstärkt aus syndikalistischen Gewerkschaften rekrutieren. Das ist eine steile These – ich bin nicht sicher, ob sie stimmt. Aber eines ist sicher: Die Aktivst:innen in der FAU und bei unter_bau sind häufig Sozialwissenschaftler:innen, die irgendwann einen Beruf brauchen – im besten Fall einen, mit dem sie nicht nur gerade so ihre Miete zahlen können. Sie kennen sich aus mit der Arbeitswelt und Gewerkschaftspraxis, manche sogar mit dem Betriebsverfassungsgesetz. Von da ist der Weg nicht weit zum Traineeprogramm von ver.di oder dem Organizing-Projekt der Industriegewerkschaft Metall. Das ist einerseits gut: Vielleicht findet so manche syndikalistische Idee ihren Weg in den DGB, die für die Gegenwart taugt. Andererseits führt es dazu, dass syndikalistische Gewerkschaften von derselben Tendenz heimgesucht werden, an der die gesamte radikale Linke leidet: Sie haben den Charakter einer Jugendorganisation.

Literatur

(1) Meya, Lukas (2021): Die prekäre Lage der Lieferboten, MDR Aktuell. https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/reportage/lieferdienste-pizzaboten-trinkgeld-corona-reportage100.html, abgerufen am 28.2.2024; Grüninger, Leon / Meya, Lukas (2022): Domino’s Pizza-Imperium. Zwischen Mindestlohn und Rolex-Boni, MDR Investigativ. https://www.youtube.com/watch?v=XwhlFcA1XkQ.

(2) Ksienrzyk, Lisa (2021): Nach einem knappen Jahr. Exklusiv: Gorillas steigt mit 245-Millionen-Runde zum Unicorn auf, Business Insider. https://www.businessinsider.de/gruenderszene/food/gorillas-tencent-unicorn-c.

(3) Halfbrodt, Michael (2014): Vorwort, in: Pouget, Émile: Die Revolution ist Alltagssache. Schriften zur Theorie und Praxis des revolutionären Syndikalismus, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Michael Halfbrodt, Edition AV, S. 7–52, hier S. 7.

(4) »Charta von Amiens« (2014 [1906]), in: Pouget (siehe oben), S. 291–292.

(5) Rocker, Rudolf (o.J. [1919]): Prinzipienerklärung des Syndikalismus, Syndikat-A.

(6) Rocker, Rudolf (o.J. [1938]): Anarchismus und Anarchosyndikalismus, Syndikat-A, S. 24.

(7) Pouget, Émile (2014 [1907]): Die direkte Aktion, in: Pouget (siehe oben), S. 137–162, hier S. 137.

(8) Ehms, Jule (2023): Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis. Die Betriebsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933, Münster: Westfälisches Dampfboot.

(9)Ehms (siehe oben), S. 103.

(10) Ehms (siehe oben), S. 52–62.

(11) Unter_bau (2016): Programm zur Gründung. https://unterbau.org/positionen/programm,