Podiumsdiskussion: Probleme des Übergangs
Jan Groos, Larissa Schober, ÜbertageAm Gespräch beteiligten sich Jan Groos, Larissa Schober sowie Marian und Joshua, die Hosts des Podcasts Übertage. Für die vorliegende Publikation haben wir das Transkript der Diskussion gekürzt und zur besseren Lesbarkeit bearbeitet.
Jan Groos (JG) produziert den Podcast Future Histories, in dem es, wie es im Untertitel zum Podcast heißt, um die »Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft« geht. Im Podcast interviewt Jan Menschen, die sich in unterschiedlichster Form mit Fragen einer möglichen postkapitalistischen Gesellschaft auseinandersetzen. Er begreift den Podcast auch als Teil seiner eigenen Forschung zum Thema.
Larissa Schober (LS) ist Journalistin mit den Themenschwerpunkten Erinnerungskultur, Feminismus, ehemaliges Jugoslawien und rechte Bewegungen. Im Zusammenhang mit der Übergangsgesellschaft interessiert sie insbesondere die Neuorganisation sozialer Beziehungen.
Joshua (JÜ) und Marian (MÜ) waren beide lange Jahre in unterschiedlichen anarchistischen Zusammenhängen unterwegs und machen jetzt seit ca. zweieinhalb Jahren den anarchistischen Podcast Übertage, der unterschiedlichste Themen aus einer anarchokommunistischen Perspektive verhandelt – darunter auch anarchistische Transformationsstrategien.
Die Frage, wie eine befreite Gesellschaft gestaltet werden kann, teilen Anarchist:innen bestimmter Strömungen – etwa des Anarchokommunismus und Anarchosyndikalismus – und Kommunist:innen. Als sich die Organisator:innen des Kantine-Festivals entschieden, eine Diskussion über »Probleme des Übergangs« von der kapitalistischen zu einer befreiten Gesellschaft ins Programm der Kantine »Sabot« aufzunehmen, stand im Hintergrund eine Überzeugung, die nicht zuletzt aufgrund der historischen Erfahrung des Umschlagens der Russischen Revolution von einem Versuch der Befreiung in ein autoritäres und menschenverachtendes System zentral erscheint: Dass sich nämlich mit der Überwindung des Kapitalismus, sollte sie einmal gelingen, nicht alle Probleme in Luft auflösen werden, sondern dass es weiterhin eine Menge Konflikte geben wird, die gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen. Bei der Podiumsdiskussion, die wir im Folgenden dokumentieren, wurden zwei Problemstellungen der Übergangsgesellschaft exemplarisch diskutiert: Wie könnten in einer befreiten Gesellschaft Bedürfnisse ermittelt werden? Und: Wie kann Arbeit anders organisiert werden? Zu Beginn drehte sich die Diskussion zudem um Einwände, die in der Linken gegen die Beschäftigung mit der befreiten Gesellschaft vorgebracht werden – etwa, dass eine solche Beschäftigung nicht möglich sei, ohne dabei kapitalistische Herrschaftsmechanismen auf die Zukunft zu projizieren.
MOD: Bevor wir uns konkreten Problemen des Übergangs zuwenden, wollen wir darüber sprechen, warum es überhaupt sinnvoll und wichtig ist, über den Übergang zu sprechen. Dazu möchte ich das Wort an Jan übergeben.
JG: Ich möchte fünf Gründe nennen, aus denen es meiner Meinung nach wichtig ist, über den Übergang zu reden. Zum Ersten würde ich sagen, dass das Sprechen über diese Fragen überhaupt erst einen Raum des Verhandelns aufmacht, dass man diese Fragen so einer kollektiven Deliberation zuführt, derer sie sonst enthoben wären, was ich schade finden würde. Zum Zweiten gibt es einen praktischen Grund: Wenn wir nicht darüber nachdenken, wie man die Sachen umsetzen könnte, dann stünden wir mit leeren Händen da, sollte es zu einer Situation kommen, in der so viel Handlungsmacht akkumuliert worden ist, dass man wirklich Dinge umsetzen kann. Das führt zum dritten Punkt, nämlich dass es zu viel verlangt wäre von einer breiten Masse an Menschen, die wir überzeugen wollen, sich quasi blindlings in dieses Abenteuer zu begeben, wenn es keine konkreten Vorschläge gibt, wie eine Gesellschaft anders organisiert werden könnte. Dann ist es zu viel verlangt von den Menschen, dass sie ihr – leider sehr kleines – Maß an Komfort und Sicherheit verlassen sollen, in eine komplett ungewisse Zukunft. Insofern denke ich, dass das als eine Form von Überzeugungsarbeit durchaus hilfreich sein kann, und – das wäre dann der vierte Punkt – in dieser Form hat es auch eine aktivierende Funktion, das Nachdenken über alternative Zukünfte: Es ist in Teilen freudvoll, weil es ja auch vermittelt, dass die Dinge anders sein könnten. Und mein letzter Punkt ist, dass die Dinge nicht vom Himmel fallen. Mein Argument kommt aus einem präfigurativen Revolutionsverständnis: Ein Denken über die Frage alternativer Organisation ist auch insofern jetzt schon relevant, als diese anderen Bezugsverhältnisse in der Gegenwart schon vorweggenommen werden sollten; im Hier und Jetzt müssen wir schon daran arbeiten, eine alternative Praxis, eine andere Form der Bezugnahme aufzubauen. Dafür muss die Auseinandersetzung geführt werden, wie man das machen kann.
Wenn ich darf, würde ich gleich zum »Wie?« des darüber Sprechens übergehen. Ich habe dafür kein Rezept; es gibt unterschiedliche Arten, wie man darüber nachdenken kann. Ich persönlich – und so versuche ich das auch in meinem Podcast zu betreiben – habe eher einen neugierig-freudvollen Modus, der vor allem auch in einer dialogischen Praxis stattfindet. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang eine Frage aufgreifen, die mir im Vorfeld zugespielt worden ist, und zwar: Was ist von dem Einwand zu halten, dass es sich dabei nur um haltlose Spekulation und Projektion handelt? Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Es gibt Formen der haltlosen Spekulation über die Zukunft. Das sind solche, die die eigene Voraussetzungshaftigkeit nicht reflektieren. Im Denken über Zukunft muss man sich fragen, welche Prämissen unausgesprochen mitgetragen werden. Oft sind das beispielsweise unausgesprochene Anthropologien: Dass man annimmt, der Mensch sei so-und-so, deswegen müsse es so-und-so sein. Das kann man ja auch gerne machen, aber dann gilt es, das kritisch zu reflektieren, sonst ist der Vorwurf der »haltlosen Spekulation« berechtigt. Zum »Wie« würde ich außerdem sagen, dass es nicht darum geht, Blueprints zu entwerfen, von denen man glaubt, sie müssten nur noch ausexerziert werden: Es ist immer prozessual zu denken, in einem Zusammenspiel von Theorie und Praxis. Das heißt, ein gewisses Maß an Spekulation ist richtig, wichtig und gut; sie wird sich in der Praxis, im Prozess, entweder bewähren oder eben nicht.
MOD: Larissa, du hast in der Vorbereitung gesagt, dass du ein Stück weit vielleicht doch am Bilderverbot hängst – also an der Auffassung, man könne Vorstellungen über eine befreite Gesellschaft nicht sinnvoll konkretisieren. Siehst du bestimmte Dinge anders als Jan?
LS: Zu Jan habe ich nicht wirklich einen Dissens. Ich würde mitgehen, dass es wichtig ist, eine Vorstellung von Utopie zu bekommen, aus den Gründen, die Jan genannt hat – und da würde ich ergänzen, dass es auch für uns als Aktive wichtig ist, um Hoffnung zu behalten. Aber wenn es in Richtung Programmatik geht, dann hat es schnell etwas von Rechthaben, womit ich mich generell ein bisschen schwertue und noch mehr, wenn es um befreite Gesellschaft geht. Ich denke, dass wir es nicht wissen können und mit sehr ausbuchstabierten Entwürfen habe ich Schwierigkeiten. Insofern hänge ich noch ein bisschen am Bilderverbot.
JÜ: Was ich sehr richtig fand, war Jans Hinweis auf die anthropologischen Vorbestimmungen, die man häufig unbewusst mitdenkt, und dass das reflektiert werden muss. Aber spannend finde ich auch, sich die ökonomischen Grundbedingungen anzuschauen, die vorherrschen und von denen ausgehend man Pläne erstellt. Ich persönlich fände es tatsächlich viel charmanter, wenn man im Nachdenken über die Übergangsgesellschaft mehr in konkretere Szenarien ginge, beispielsweise ausgehend von lokalen Unterschieden. Ich weiß nicht, ob das eine große Hoffnung von allen hier ist, aber wenn es beispielsweise mal einfach nur in Sachsen eine Revolution geben wird und es da dann zu einer Übergangsgesellschaft kommt: Wie wird man denn eigentlich so ein Gebiet gemeinsam selbstverwaltet organisieren? Wie würden Pläne aussehen?
›Erste‹ und ›zweite‹ Phase?
MOD: Wenn man von einer Übergangsgesellschaft spricht, dann steht im Hintergrund meist die Vorstellung zweier Phasen: Nach einem revolutionären Bruch folgt eine Übergangsgesellschaft, in der die Mechanismen der gesellschaftlichen Neuorganisation vielleicht noch nicht so gefunden und ausgereift sind; und erst darauf folgt dem Modell nach mit der zweiten Phase die volle Verwirklichung der befreiten Gesellschaft, der Kommunismus oder der Anarchismus. Wir finden es wichtig, diese Aufteilung zu problematisieren. Gerade auch, wenn man auf die Erfahrung des Realsozialismus zurückgeht, stellt sich ja die Frage: Wie soll denn der Übergang von der ersten in die zweite Phase gelingen? Wie kann man sicherstellen, dass Herrschaftsmechanismen nicht auf Dauer gestellt werden? Dazu würde ich gern Jan noch mal das Wort geben.
JG: Ich habe immer wieder Probleme mit dieser Konstellation einer ersten und zweiten Phase, vor allem dann, wenn man so für eine erste Phase argumentiert, dass man sagt, der Boden sei noch nicht bereitet, die Menschen seien noch nicht bereit dafür, sich so zu verhalten, dass ein voller Kommunismus möglich wäre. Also für mich ist das Denken in zwei Phasen vor allem dann problematisch, wenn es herangezogen wird, um zu rechtfertigen, dass man bestimmte Sachen mitschleppt, die eigentlich überwunden werden sollten: ein Arbeitszwang zum Beispiel und andere Formen der Disziplinierung der Subjekte. Das teile ich einfach nicht und ich frage mich auch, wie man dann zu dem Punkt kommen sollte, dass die Leute die neue Form der Bezugnahme erlernen, wenn man doch auf der anderen Seite so tut, als müsse man eine Disziplinierung beibehalten. Das ist ein inhärenter Widerspruch für mich. Was mich auch stört an diesem Zwei-Phasen-Modell ist, dass es oft mit einer Knappheitsargumentation legitimiert wird. Gerade in aktuellen Debatten rund um demokratische, ökonomische Planung werden in meiner Wahrnehmung viel zu schnell letztlich liberale Vorstellungen von Knappheit reproduziert, die dann immer einhergehen mit bestimmten Machtkonfigurationen, die dann aber nicht zu Genüge thematisiert werden. Und vielleicht als letzten Punkt: Es ist ja auch eine klassische Argumentation für das Zwei-Phasen-Modell, dass man sagt, die Produktionskräfte seien noch nicht weit genug entwickelt. Das halte ich einfach für Humbug.
MÜ: Also ich finde den Punkt, den du genannt hast, dass das Zwei-Phasen-Modell als Rechtfertigung herhält, auf jeden Fall richtig. Das wird ja von realsozialistischen Ländern oft gemacht, dass man alle Widersprüche, die aufgetreten sind, auf die Beschränkungen der ersten Phase zurückführt. Dennoch würden wir sehr klar sagen, dass es ein Zwei-Phasen-Modell braucht: Es braucht einen Sozialismus als Übergangsgesellschaft und dann einen freiheitlichen Kommunismus – schon deswegen, weil es der Situation Rechnung trägt, dass wir sehr wahrscheinlich keine Weltrevolution haben werden. Wir werden sehr wahrscheinlich nicht einfach von jetzt auf gleich in den Kommunismus übergehen, sondern wir haben dann wahrscheinlich ein paar Länder oder Regionen, wo es eine Revolution gibt, und die dann in einem Konkurrenzverhältnis zu den kapitalistischen Staaten stehen, oder faschistischen Staaten, je nachdem. Und dementsprechend braucht es eine Form von Übergangsgesellschaft. Solange es keine Weltrevolution gibt, können wir unsere Ideale nicht zu 100% verwirklichen. Das ist auch eine Lehre, die aus dem Realsozialismus gezogen werden kann, denke ich.
LS: Für mich wäre die Lehre aus dem Realsozialismus, dass man eben nicht an der eindeutigen Einteilung in zwei Phasen festhält. Ich tue mich wie Jan schwer mit dem Modell, weil es sich eben sehr gut zur Rechtfertigung eignet. Ich sehe es eher so, dass es nach einem revolutionären Bruch Zeit braucht, die Gesellschaft zu organisieren und Dinge auszuhandeln; Dinge werden wahrscheinlich zuerst noch sehr viel mehr an die vorherige Gesellschaft rückgekoppelt laufen und es wird wahrscheinlich nicht das sein, was wir uns unter Kommunismus vorstellen. Aber deshalb den Prozess in zwei Phasen einzuteilen, halte ich für sehr gefährlich.
MOD: Ich habe noch eine Verständnisfrage zu dem, was du, Jan, gesagt hast. Du hast das liberale Knappheitskonzept angesprochen und mir ist nicht ganz klar, wie deine Kritik gemeint ist. Angenommen in einer bestimmten Situation äußert jemand die Einschätzung: »Wir haben weniger Ressourcen als nötig, um die Güter herzustellen, die erforderlich wären, um alle gegebenen Bedürfnisse befriedigen können.« Würdest du sagen, dass daraus ein liberaler Blick auf Ökonomie spricht?
JS: Also, wenn das so festgesetzt wird, dann würde ich das erst mal anzweifeln. This remains to be seen, würde ich sagen. Das kann man nicht als eine primäre Setzung einfach so behaupten, denn damit nimmt man ja bestimmte Annahmen vorweg in Bezug auf den Bedürfnishaushalt. In der Wirtschaftswissenschaft gibt es ja bestimmte Annahmen, mit denen so getan wird, als hätten wir unsättigbare Bedürfnisse, die jede Form von Ressourcen sprengen würden. Deswegen müsse dieses Prinzip der Drangsalierung eingeführt werden, um das in Zaum zu halten. Dieses Konstrukt würde ich auf jeden Fall als ideologischen Bodensatz ansehen. Was ich nicht damit meine, ist man solle so tun, als gäbe es nicht von manchem mehr und von manchen weniger. Es geht nicht um Realitätsverweigerung, sondern es geht um eine bestimmte Form von kultureller Hierarchisierung, die mit der Idee von Knappheit eingeführt wird. Sie setzt traditionell weiße Ökonomen als die Wissenden, die quasi ein vernünftiges Bezugsverhältnis zur Zukunft an sich haben, weil sie in rationaler Weise über Ressourcen haushalten, und die anderen, die – klassischerweise im rassistischen, liberalen Kontext von Malthus gedacht – »Primitiven«; die seien nicht in der Lage, ein vernünftiges Verhältnis zur Zukunft und den Ressourcen zu entwickeln. Das ist der ideologische Ursprung dieser spezifischen Idee von Knappheit. Und ich würde sagen, dass es ein Problem ist, wenn man im Denken über alternative Zukünfte diese Setzung von Knappheit übernimmt. Das sehe ich oft bei Modellen für demokratische Planung: Sie beginnen mit der Annahme von Knappheit und der Frage, wie wir damit anders umgehen können. Aber wie gesagt, wenn man so anfängt, dann ist es nicht verwunderlich, dass man mit der Meinung endet, es müsse doch in irgendeiner Form diszipliniert werden: Es müsse Arbeitszwang geben, eine Kopplung von Arbeit und Konsumrechten usw.
Von Bedürfniserfassung und -erfüllung
MOD: Im Unterschied zum Markt, wo die Privateigentümer der Produktionsmittel mit Blick auf den zu erwartenden Profit Entscheidungen über die Herstellung von Gütern treffen und wo über Konsum die Zahlungskraft entscheidet, ist die Grundidee von Planwirtschaft: Wir stellen fest, was die Bedürfnisse sind und was es für ihre Befriedigung braucht, um dann in einem kollektiven Arbeitsprozess die entsprechenden Güter und Dienstleistungen herzustellen. Von dort aus scheint man es erstmal mit recht technischen Fragen zu tun zu haben, wenn es darum geht, wie man Bedürfnisse erhebt, daraus den Bedarf ableitet und die anfallende Arbeit verteilt. Larissa, du wirst das in deinem Input jetzt problematisieren und uns zeigen, dass man es mit einer Serie von Problemen zu tun hat, man sich fragt: Was für Bedürfnisse sind denn eigentlich der Ausgangspunkt in einer Planwirtschaft?
LS: Wenn man Leute fragt, was denn die befreite Gesellschaft ist, dann kommt oft dieses schöne Zitat: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Aber in meiner Erfahrung sprechen wir eigentlich kaum darüber, was eigentlich diese Bedürfnisse sind, nach denen sich die Produktion in der befreiten Gesellschaft ausrichten soll. In Entwürfen, die diese Fragen eigentlich beantworten müssten, liegt der Fokus auf der Arbeit, die der Befriedigung dieser Bedürfnisse dienen soll: Wie wird die Arbeit organisiert? Wie soll sich Arbeit und unser Verständnis von Arbeit verändern? Kann sie freiwillig sein? Und so weiter. Eine ähnlich konkrete Auseinandersetzung mit Bedürfnissen fehlt häufig. In den etwas konkreteren Überlegungen zu einem Übergang erscheinen sie oft ausschließlich als Konsumwünsche – ohne dass das explizit gemacht würde. Diese selbstverständliche Identifizierung von Bedürfnis und Konsumwunsch greift deutlich zu kurz. Sie verweist auch darauf, dass Diskussionen über die befreite Gesellschaft oft auf die Ökonomie beschränkt sind. Es bleibt bei der abstrakten Aussage, die Produktion in der befreiten Gesellschaft richte sich an den Bedürfnissen aus. Etwas konkretere Überlegungen dazu, was diese Bedürfnisse eigentlich sind, finden sich etwa in der Commons-Debatte. Da sollen Bedürfnisse in persönlichen Interaktionen ausgehandelt werden. Es gibt auch die Vorstellung eines digitalen Gesamtkatalogs, aus dem man die Gebrauchsgegenstände, die man für den eigenen Konsum braucht, bestellen kann. Mal von anderen Schwierigkeiten, die ich mit solchen Modellen habe, abgesehen, sie setzen alle diese anthropologische Konstante, die Jan vorhin angesprochen hat, voraus, nämlich dass wir von rationalen, autonomen, einzelnen Menschen ausgehen, die ihre Bedürfnisse sehr genau kennen und artikulieren können und dann auch noch fähig sind, sie entweder in langen Plena auszuhandeln oder die entsprechenden Gebrauchsgegenstände in einem Katalog auszuwählen. Das ist, finde ich, eine kapitalistische Vorstellung und auch eine sehr sexistische. Sie kann meiner Meinung nach nicht Grundlage für eine befreite Gesellschaft sein. Die Zeitschrift Kosmoprolet, bei der ich lange im Redaktionskollektiv war, hat vor gut fünf Jahren einen Artikel von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft aus Berlin gedruckt, der hieß »Umrisse der Weltkommune«. Die Gruppe schreibt, dass zuerst die dringenden, unbefriedigten Bedürfnisse aller befriedigt werden müssen, geht aber der Diskussion, was eigentlich diese Bedürfnisse sind, aus dem Weg, indem sie mit Bezug auf Adorno sagt, damit sei die Abschaffung des Leides gemeint. Das klingt erst einmal recht pragmatisch. Aber in einer Gesellschaft – und hier tappe ich vielleicht in die liberale Falle, die Jan angesprochen hat –, in der wir mit begrenzten Ressourcen zu tun haben, stellt sich doch die Frage: Wo fangen wir an mit der Abschaffung des Leides, wo hören wir damit auf und wie wird das eigentlich entschieden? Was ist das eigentlich, »alles Leid«, und bis zu welchem Zeitpunkt müssen die als weniger dringlich deklarierte Bedürfnisse hinten angestellt werden? Die Figur des Abschaffens von Leid ermöglicht nur scheinbar, die extrem schwierige Frage zu meiden, was legitime Bedürfnisse sind und was nicht. Ich sehe, warum man diese Frage vermeiden will, aber ich fürchte, dass wir um sie nicht herumkommen werden: Ist es besser, über Jahrzehnte begrenzte Ressourcen in die Erforschung von einem Krebsimpfstoff zu stecken, oder wäre es besser, diese Ressourcen dafür zu verwenden, im Hier und Jetzt ein vielleicht kürzeres, aber gutes Leben für alle zu haben? Und wenn wir uns die Abschaffung des Leides als Ziel setzen und darunter auch Krankheit zählen, sind wir auch schnell bei der Frage, wo eigentlich Ableismus anfängt.
Wenn ich mit Genossen – ich glaube, das muss ich in dem Fall leider nicht gendern – über die befreite Gesellschaft spreche, dann entsteht bei mir oft der Eindruck, dass irgendwie klar sein wird, was die dringlichen Bedürfnisse sind, die als allererstes befriedigt werden müssen. Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, sondern dass es dafür wahrscheinlich komplizierte Aushandlungsprozesse brauchen wird. Für diese Aushandlungsprozesse brauchen wir Instanzen, weil sonst die Bedürfnisse all jener, die nicht fünf Stunden auf einem Plenum sitzen können, die sich nicht durch so einen Warenkatalog klicken können oder die vielleicht auch einfach nicht sprechen können, automatisch unter den Tisch fallen werden. Was außerdem oft in solchen Diskussionen mitschwingt ist, dass wir uns sehr rational überlegen können, was die wichtigsten Bedürfnisse sind. Ich glaube, dass man das nicht immer bestimmen kann und dass deswegen Entscheidungen notwendig sind. Deshalb werden wir um Fragen wie »Wie werden eigentlich Bedürfnisse erhoben? Was ist mit jenen, die ihre Bedürfnisse nicht artikulieren können? Was zählt überhaupt als Bedürfnis?«, einfach nicht herumkommen.
Das gilt schon für materielle Bedürfnisse. Aber noch evidenter ist das, wenn wir über Bedürfnisse sprechen, die nicht in diese Kategorie fallen oder nicht in ihr aufgehen. Wie geht eine befreite Gesellschaft damit um, wenn sich legitime Bedürfnisse diametral gegenüberstehen? Diese Frage ist für mich gar nicht so theoretisch, wie sie vielleicht zunächst klingt. Ich denke an die Coronapandemie zurück, wo sich zwei menschliche Grundbedürfnisse für eine Zeitlang gegenseitig ausgeschlossen: Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, in dem Fall die Nichtansteckung mit dem Virus, und das Bedürfnis nach menschlicher, auch körperlicher Nähe. Das ging in vielen Fällen nicht zusammen, und an der Auseinandersetzung darüber kann man gut sehen, was für Schwierigkeiten da aufkommen: von staatlicher Seite die Reaktion mit unfassbar vielen Vorgaben und Einschränkungen und, für mich wichtiger, krasse Aushandlungsprozesse in linken Kontexten: zum Beispiel in einer WG, weil für jeden die Priorisierung dieser beiden Bedürfnisse unterschiedlich war; immer leicht verschoben und auch nicht immer zeitlich gleich – das hat sich vielleicht auch tageweise geändert. Die Priorisierung war davon beeinflusst, wie die Lebensumstände waren: Hat man allein gewohnt oder nicht? War man verpartnert oder nicht? Hat man auf Arbeit die Möglichkeit gehabt, sich vor dem Virus zu schützen oder war man ihm ohnehin die ganze Zeit ausgesetzt? Hinzu kam die zeitliche Komponente, gerade am Anfang von der Pandemie: Machen wir eigentlich gerade einen Plan für die nächsten zwei Wochen oder für die nächsten zwei Jahre? All das hat teilweise zu sehr unschönen Auseinandersetzungen geführt. Und selbst wenn sie richtig gut gelaufen sind, haben die sehr viel Zeit in Anspruch genommen, obwohl es sich bei einer WG um eine so kleine sozialen Einheit handelt. Da stellt sich für mich dringend die Frage: Wie geht so etwas auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene? Die Frage muss verhandelt werden.
MOD: Du hast gesagt, es muss Institutionen geben, einerseits dafür, dass die Bedürfnisse von Menschen, die sich nicht selbst artikulieren können, ein Gewicht haben und erkannt werden, und andererseits für Fälle, in denen Bedürfnisse nicht gleichzeitig befriedigt werden können, weil sie einander ausschließen. Dabei stellt sich die Frage: Nach welchen Prinzipien soll das ausgehandelt werden? Man könnte beispielsweise unterscheiden – Jan kann mir gleich sagen, ob ich damit in die neoliberale Falle tappe – zwischen Grundbedürfnissen und Luxusbedürfnissen, wenn die Ressourcen nicht ausreichen. Das wäre eine inhaltliche Antwort darauf, nach welchen Prinzipien man in Konflikten vorgehen kann.
JÜ: Bei der Frage nach der Aushandlung der Bedürfnisse frage ich mich, wie man sich das genau vorstellen könnte. Ich stehe dem tatsächlich ein bisschen ratlos gegenüber, wenn es darum geht, dass Bedürfnisse zueinander in Konflikt treten: Ob es am Ende in der Aushandlung einfach von dem konkreten Fall abhängt, dass es also immer in der Situation selber ausgehandelt werden muss, auch auf einer größeren gesellschaftlichen Ebene, oder ob es dazu führen wird, dass man sich eine Art Rechtskatalog geben wird, in dem Bedürfnisse klassifiziert sind; oder ob man das am Ende sogar in Kennzahlen übersetzen wird, und das große Computerprogramm sagt dann, »okay, der Konflikt ist so entschieden, Partei A hat die besseren Bedürfnisse«. Das klingt für mich nach einer Art utilitaristischem System, mit all den Problematiken, die das mit sich bringt. Gerade, wenn wir hier auch die Thematiken marginalisierter Gruppen und insbesondere von Ableismus betroffenen Menschen mitdenken.
JG: Letzteres soll es – da sind wir uns hier, glaube ich, einig – auf keinen Fall sein. Ich denke auch nicht, dass es möglich ist, auf Basis von Quantifizierungen zu entscheiden. Es gibt da eine Inkommensurabilität und die kann am Ende immer nur dazu führen, dass es verhandelt werden muss. Es kann auch deshalb nicht nur auf Basis numerischer Größe entschieden werden, weil man damit so tun würde, als gäbe es hier vor allem ein Effizienzproblematik, was oft nicht stimmt. Ein Weg, wie man das Problem vielleicht abmildern kann, ist, dass man von einer sehr großzügigen Basis ausgeht, also von Universal Basic Services, die für alle Menschen einen hohen Komfort ohne Gegenleistung produzieren. Wenn es diese Basis gibt, verhandelt man aus einer anderen Position heraus, zum Beispiel im Bereich der Reproduktionsarbeit, wo sich die alltäglichen Qualen der Care-Arbeit, die es ja auf jeden Fall gibt, ganz anders darstellen werden, wenn nicht noch der Anspruch hinzukommt, 40 Stunden für Arbeitszettel zu arbeiten oder Ähnliches. So könnte man zumindest ein bisschen Druck aus der Angelegenheit auch herausnehmen.
LS: Es gibt noch einen anderen Punkt, über den nicht so viel gesprochen wird. Es gibt diese Vorstellung, dass viele Bedürfnisse nach der Revolution einfach hinfällig werden, weil es Bedürfnisse sind, die der Kapitalismus produziert. Ich würde den Gedanken gerne umdrehen und fragen, ob nicht auch viele Bedürfnisse dann erst entstehen. Ich finde den Gedanken der Universal Basic Services, den du aufgeworfen hast, sehr sympathisch, weil ich es in manchen Entwürfen sehr irritierend finde, dass wirklich jedes Bedürfnis – z.B. ich brauche Strom und einen Tisch etc. – alles extra kommuniziert werden muss. Darin zeigt sich wieder, dass ein sehr autonomes Subjekt als Norm gilt. Ich finde das sehr problematisch. Gerade auch in Diskussionen über Anarchismus kommt das immer wieder auf, dass auf dieser Autonomie beharrt wird. Für mich ist ganz klar, dass eine befreite Gesellschaft keine Gesellschaft von autonomen Einzelnen ist, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und dass diese Vorstellung von Autonomie auch ganz viel damit zu tun hat, dass man nicht abhängig sein möchte, dass man sich nicht damit auseinandersetzen möchte, dass man den Großteil seines Lebens tatsächlich abhängig ist und diese autonome Phase eine relativ kurze ist.
Von der Transformation der Arbeit
MOD: In den »Umrissen der Weltcommune«, die schon erwähnt wurde, gibt es die Vorstellung, dass sich dieses Problem in der befreiten Gesellschaft ein Stück weit von allein lösen wird, weil sich die Art der Arbeit verändert und Menschen sie freiwillig verrichten. Da stellt sich die Frage: Ist es denn realistisch und einzulösen, dass sich Arbeit allgemein so umgestalten lässt, dass sie angenehm wird? Gibt es vielleicht immer noch Arbeit, die schwer zu verteilen ist, aber trotzdem gesellschaftlich notwendig? In verschiedenen Modellen wurden unterschiedliche Antworten darauf gefunden, wie man Arbeit gesellschaftlich verteilen kann – eine Antwort ist die Kopplung an Bedürfnisbefriedigung. Dabei stellt sich wiederum die Frage nach der Durchsetzung: Kann das über Vereinbarungen passieren kann, oder besteht die Gefahr, dass daraus ein Zwangsapparat entstünde? Das ist in etwa der Problemaufriss, vor dem wir stehen.
JÜ: Wir haben schon darüber gesprochen, dass aus marxistischen Kreisen immer wieder dieses Bilderverbot aufgestellt wurde, gerade dann, wenn es um die Organisierung von Arbeit geht. Das ist etwas, was mir auch im Anarchismus immer wieder begegnet ist: Es gibt die Position, dass es autoritär sei, darüber nachzudenken, wie Arbeit in der Übergangsgesellschaft verteilt wird, und dass das überhaupt nicht planbar ist, wegen der besonderen Kräfte, die dann frei werden. Ich denke aber, dass es, wenn wir keine Strategien für die Übergangsgesellschaft entwickeln, zwangsläufig zu Verteilungschaos kommen wird, zu Konflikten oder – und das ist, glaube ich, eine ganz große Gefahr – zu einem lösungsorientierten Autoritarismus, der sich dann anbietet, wenn es nicht geschafft wird, die Arbeit richtig zu verteilen.
Aber kommen wir erstmal zu den Grundbedingungen, die sich in der Übergangsgesellschaft verändern würden. Ich glaube, das Erste ist, dass die Arbeit ganz anders wahrgenommen wird: Sie wird nicht mehr als etwas wahrgenommen, das für den Erfolg des Unternehmens oder der eigenen Nation wichtig ist, sondern als etwas, das für das eigene gute Leben getan wird, für die Gemeinschaft und auch für die Revolution, die man am Laufen halten möchte, gerade in einer Situation der Systemkonkurrenz. Das Zweite ist, dass Lohnarbeit und die Überbleibsel an feudalen und sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen abgeschafft werden. Das heißt, dass es keinen Verkauf der Arbeitskraft mehr gibt, an einen Käufer, der die produzierten Waren verwalten kann, wie er möchte, weil ein Eigentumstitel daran hat, sondern es gib eine Selbstverwaltung und Planung der Arbeit durch die Arbeiter und damit verbunden den Zugang zu den Produkten, vermittelt durch die gesellschaftliche Verteilung. Das Dritte ist, dass die Trennung von nicht entlohnter Care-Arbeit und Lohnarbeit aufgehoben wird. Da stellt sich für mich die Frage, wie das in der Übergangsgesellschaft organisiert werden kann: Wie kann gewährleistet werden, dass sich patriarchalen Hierarchien in der Übergangsgesellschaft nicht einfach weitertragen, dass die Männer sich bei der Arbeit nicht weiter rausschlawinern? Meiner Meinung nach funktioniert das nur darüber, dass es eine Messung der Arbeitszeit gibt. Das heißt, es muss irgendwie nachvollzogen werden, was an Energie und Kraft in die Care-Arbeit reingesteckt wird. Aber was wird dann als Arbeit anerkannt – gerade, wenn wir auch emotionale Arbeit als Care-Arbeit zählen? Was zählt als eine produktive Arbeitsstunde? Wenn wir darüber reden, dass, was weiß ich, Fernseher, Badeschlappen produziert werden, dann kann man vielleicht noch sagen, was eine produktive Arbeitsstunde ist. Wie geht man aber um mit emotionaler Arbeit, Pflege etc.? Und sollte vor diesem Hintergrund die Arbeit tatsächlich an Zugang zu Gütern gekoppelt sein? Schafft man sich da nicht einen hausgemachten Widerspruch, zwischen den Arbeitern, die immer mehr Arbeitszeitgutscheine haben wollen – denn jede:r von uns möchte möglichst alle seine Konsumbedürfnisse befriedigt sehen – und der Gesellschaft, die möglichst gute Produkte und Dienstleistungen haben und auch über die Care-Arbeit für alle gesorgt sehen will?
MÜ: Wir streben nach einer Gesellschaft nach dem Grundsatz »jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen« in den Bereichen Arbeit und Konsum und auch darüber hinaus. Da ist ein Unterschied zwischen dem anarchistischen Kommunismus nach Kropotkin und dem anarchistischen Kollektivismus nach Bakunin, der den Zugang zu Gütern an geleistete Arbeit gekoppelt hat. Nach unserem Ideal sollte es so laufen, dass sich alle aus dem gemeinsam geschaffenen Reichtum bedienen. Es wird aber unserer Voraussicht nach im freiheitlichen Sozialismus erst mal sehr unterschiedliche Konzepte geben. Es wird sicherlich nicht so sein, dass direkt vom ersten Tag an ein gesamtes Konzept in dieser Frage umgesetzt wird, sondern es wird zum Beispiel in manchen Regionen normalen Tauschhandel geben, teilweise wird es Überreste von Geldsystemen geben. Arbeitszeitgutscheine sind denkbar, oder Ausgabestellen, die schon eher einem kommunistischen Modell nahekommen. Für uns muss der Fokus darauf liegen, dass die Entwicklung hin zum Kommunismus läuft, Stück für Stück. Die Tauschlogik müssen wir überwinden, weil sie ein großer Einfallstor für eine Rückentwicklung zur Herrschaft ist.
Wir denken, dass im Sozialismus viel Arbeitskraft frei gemacht werden kann. Im Kapitalismus gibt es Phänomene wie geplante Obsoleszenz: Produkte werden so hergestellt, dass sie sich nach einer Zeit selbst zerstören und man sie wieder neu produzieren muss. Wir denken an den Wegfall von Bürokratie, wir denken an Wegfall von Versicherungen und den Finanzbereich. Außerdem geht es natürlich um Zusammenlegung und Kollektivierung, beispielsweise – um ein altes Konzept aufzuwerfen, das auch heute sicherlich noch funktionieren würde – um Großküchen, in denen für alle gekocht wird, oder die Kollektivierung der Felder, der Fabriken, sicherlich aber auch so was wie Carsharing, wo natürlich ökologische Aspekte hinzukommen.
Wenn wir von einem Zustand der Knappheit ausgehen, in dem wir nicht alle unsere Bedürfnisse erfüllen können, dann ist die Frage: Wie sieht es aus mit Rationierung? Wie läuft das mit dem Bekämpfung des Schwarzmarkts? Was ist mit Menschen, die sich komplett verweigern, einen Teil zur Gesellschaft beizutragen? Und, noch größer gedacht: Wenn wir davon ausgehen, dass ein sozialistisches Modell von außen angegriffen wird, dass also kriegerische Auseinandersetzungen auf uns zukommen – wie läuft das dann, mit der Kriegsproduktion, beispielsweise? Das war auch im Realsozialismus immer ein riesiges Problem.
JÜ: Krieg und Sicherheitskonflikte sind das, was immer als erstes in den Sinn kommt, wenn wir über Systemkonkurrenz mit dem kapitalistisches Ausland sprechen. Ich denke, was dabei aber häufig total unterschätzt wird, sind die Auswirkung auf die Arbeit und Arbeitsorganisation. Ich zum Beispiel möchte nach der Revolution nicht auf meinen morgendlichen Espresso verzichten, und ich gehe davon aus, dass die meisten von euch hier, die ihr Leben für die Revolution geben würden, am Ende nicht ohne Kaffee, Kippen und Computer dasitzen wollen. Wenn wir eine lokale Revolution haben, wenn wir den ökonomischen Bestand und die globale Einbindung des Vorgängerstaates erben, dann gibt es eigentlich nur ein paar Wege, wie man das bewerkstelligen könnte. Zum einen wäre da natürlich der sehr lange und steinige, häufig versuchte, aber häufig auch gescheiterte Weg, Autarkie zu erzeugen, was sicherlich mit großen Verzicht auf verschiedene Bedürfnisse verbunden wäre, oder, dass Handel mit dem Ausland geführt werden muss. Es kann natürlich sein, dass es immer mehr kleine Revolutionen gibt, die dann diese Bedürfnisse befriedigen können. Aber am Ende gehe ich davon aus, dass es auf diesen Handel mit dem Ausland hinauslaufen wird. Da gibt es dann natürlich das große Thema Auslandswährung, das alle bisherigen Übergangsgesellschaften beschäftigt hat. Die kann nur dadurch erzeugt werden, dass ein Teil der Produkte der lokalen Verteilung entzogen und auf dem globalen Markt als Waren realisiert wird. Das bedeutet, dass Arbeit sowohl kapitalistisch als auch anarchistisch weiter existieren wird. Ist das dann das große Einfallstor, durch das sich kapitalistische Logiken einschleichen können? Es muss dann nach kapitalistischen Maßstäben produziert werden, auch wenn es in der Selbstverwaltung geschieht. Und ich glaube, eine nicht zu unterschätzende Frage ist dann auch: Was bedeutet das für unser Verhältnis zum Globalen Süden? Die globale Einbindung, die wir erben, basiert auf imperialistischen und rassistischen Hierarchien. Was heißt das, wenn wir weiterhin unsere Bedürfnisse haben, beispielsweise nach elektronischen Gütern oder nach Produkten, die in den Tropen angebaut werden – mit den furchtbaren Bedingungen, die dort mit kapitalistischer und sklavereiähnlicher Ausbeutung weiter herrschen. Wie kann dieser Widerspruch zwischen Konsumbedürfnissen und kapitalistischer Ausbeutung aufgelöst werden? Und wie kann verhindert werden, dass die Teilhabe am globalen Markt nach und nach immer attraktiver wird, wie wir das in vielen Übergangsgesellschaften in der Geschichte gesehen haben?
LS: Ich würde gerne einhaken bei der Freisetzung von Arbeitskraft. Ich würde euch zustimmen, dass durch all diese sinnlosen Dinge wie Versicherungen usw., die es dann nicht mehr gibt, Zeit gewonnen wird. Ich würde hier aber nochmal Care-Arbeit reinwerfen. Die Arbeitssoziologin Gabriele Winker hat erhoben, dass 64% der gesellschaftlichen Arbeit auf Care-Arbeit entfallen. Davon sind heute 8% entlohnt. Das heißt, auf das, was wir an Arbeit haben, die gesellschaftlich geleistet werden muss, kommen nach der Revolution nochmal 56% drauf. Deswegen wäre ich mir nicht so sicher, ob da tatsächlich so viel freigesetzt wird. Außerdem gibt es viele Menschen, die nicht arbeiten können. Und da hakt ein Unbehagen ein, das ich vorhin schon angesprochen habe, mit dieser Fokussierung auf Arbeit in diesen Entwürfen, weil sich für mich eine Utopie eigentlich nicht mehr an Arbeit als einer zentralen gesellschaftlichen Kategorie orientieren würde. Ich weiß nicht, ob ich damit eine schlechte Kommunistin bin, aber ich würde mir wünschen, dass das nicht mehr der zentrale Aspekt ist. Oft ist der Gedankengang ja: Wir weiten die Arbeit auf alle anderen Bereiche aus, alles wird Arbeit, damit es gerechter verteilt werden kann. Ich kann diesen Gedanken nachvollziehen und würde ihn auch nicht komplett zurückweisen. Aber ich frage mich auch, was es denn hieße, wenn wir es umdrehen würden, wenn wir sagen, es geht nicht mehr um Arbeit, es geht – das ist der Gedanke, den ich in den »Umrissen der Weltcommune« vielleicht doch ein bisschen verteidigen würde – darum, dass sich Arbeit in der Form, wie wir sie heute kennen, relativ schnell auflösen würde.
JG: Marian und Joshua, ihr habt gesagt, ihr würdet am Zwei-Phasen-Modell festhalten. Mein Eindruck wäre, das alles steht und fällt mit der Frage, ob die sozialen Beziehungen sich tatsächlich fundamental zum Besseren ändern. Und wenn man weiterhin mit Formen der Quantifizierung arbeitet oder Arbeit und Konsum aneinanderkoppelt, dann denke ich, dass sich die Dinge auf einer fundamentalen Ebene nicht ändern, weswegen ich das Gefühl habe, es gelte eher, diese Probleme, die ja ohne Frage richtig von euch festgestellt werden, anders zu adressieren. Die Reproduktion muss anders organisiert werden, aber ich bezweifele, dass das damit gut adressiert ist, die Reproduktion in die Sphäre der quantifizierten Arbeit, die dann an Tausch gekoppelt wäre, mit hineinzuziehen. Um einen Rückfall in Ausbeutungsverhältnisse zu verhindern, müsste man eine Form der Verbindlichkeit finden, die jenseits des Zwangs operiert, und ich glaube, dass das sehr wohl möglich ist. Ich glaube, dass diese Gegenüberstellung »entweder Arbeitszeitrechnung oder komplette Unverbindlichkeit«, falsch ist, weil es sehr wohl andere Modi der Verbindlichkeit gibt, und ich würde auch hoffen, auch zwischen Fremden, die eine gewisse Form von Tragfähigkeit haben, um zu verhindern, dass es keinen Schutz vor Ausbeutung in der Care-Arbeit gibt.
JÜ: Ich würde auf jeden Fall zustimmen, dass Arbeitszeitrechnung und die Kopplung von Arbeit und Konsum nicht das Mittel der Wahl wären, und ich glaube, der Widerspruch, den ich angesprochen habe, ließe sich durch eine produktive Stundenrechnung nicht auflösen. Und die Gefahr ist viel zu groß, dass man dadurch große Probleme in der Übergangsgesellschaft erzeugt. Aber ich tue mich schwer zu denken, dass es gänzlich ohne eine Messung von Zeit gehen wird, wenn es darum geht, nachzuvollziehen, wie Leute arbeiten. Denn ich glaube, diese Hierarchie, die bei der Arbeitsverteilung existiert, die darf man wirklich nicht unterschätzen, und da wird es starke Überreste geben, die wir von der kapitalistischer Gesellschaftsorganisation übernehmen, gerade auch die patriarchale Aufteilung der Arbeit. Die kann durch so etwas aufgebrochen werden. Ich vertraue aber auch darauf, dass neue soziale Beziehungsweise entstehen, die dafür sorgen, dass es eine gelebte Kultur der solidarischen Übernahme von Arbeit gibt, und dass viel in den Vierteln, in den Betrieben selbst organisiert werden kann, wo es einen viel intensiveren Aushandlungsprozess dieser ganzen Dinge gibt.
Verwendete Literatur
- Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft (2018): »Umrisse der Weltcommune«, in: Kosmoprolet, 21.03.2018. Online unter https://kosmoprolet.org/de/umrisse-der-weltcommune.
- Winker, Gabriele (2015): Care Revolution: Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld: transcript.
Weiterführende Literatur und Hörtipps
- Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp Verlag.
- Adamczak, Bini (2014): Kommunismus: Kleine Geschichte, wie es endlich anders wird. Münster: Unrast.
- Übertage Podcast (2023, 06. Mai): Folge 100: unser Weg zur Revolution – eine anarchistische Transformationsstrategie, online unter https://www.podcast.de/episode/607361113/folge-100-unser-weg-zur-revolution-eine-anarchistische-transformationsstrategie.