»Kreative Abtötung des Staates« : Über Isaac Steinberg
Julian Meinelt, Magdalena FreckmannDieser Text ist das Resultats eines Workshops, den Magdalena, Julian und Lukas (alle Teil des Kantine-Teams) gemeinsam für die Kantine »Sabot« konzipiert haben. Auf der sogenannten »2. Marxistischen Arbeitswoche« im Mai 2023 in Frankfurt a.M. hatten die drei bereits einige Thesen zu Isaac Steinberg und zum Anarchismus zur Diskussion gestellt. Über die Biografie von Hendrik Wallat waren wir auf Isaac Steinberg aufmerksam geworden und kamen so dazu, Steinbergs »Thesen zum Staat« zu diskutieren. Davon angefixt wollten wir uns weiter mit Steinberg auseinandersetzen – er schien uns eine besonders interessante Figur zwischen Bolschewismus und Anarchismus zu sein. Beide werden von Steinberg kritisiert, wobei er letzterem eine große Sympathie entgegen bringt.
1 Einleitung
»Wir haben damals in Petrograd mit den Bolschewiki gekämpft für ein abstraktes Prinzip, für die Rechte des menschlichen Lebens.« (1)
Als Josef Stalin im März 1953 starb, war der hochbetagte russisch-jüdische Intellektuelle Isaak Nachman Steinberg der letzte Überlebende des Rats der Volkskommissare. Dieser Rat war Ende 1917, in der Anfangszeit der Sowjetrepublik, die offizielle Regierung. Der am 13. Juli 1888 in Dvinsk im russischen Kaiserreich (heute: Daugavpils, Lettland) geborene Steinberg, der damals der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (PLSR) angehörte, hatte sich mittlerweile in New York niedergelassen, wo er auch einige Jahre später am 2. Januar 1957 starb. Insbesondere vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verlieh ihm sein ehemaliges Amt als Justizkommissar in der frühen Sowjetrepublik für die amerikanischen Medien genügend Expertise für Gespräche über die dortigen Verhältnisse. In einem dieser Interviews für eine Radiosendung warnte Steinberg vor den Gefahren einer Ausbreitung des Bolschewismus und bezeichnete sich dabei als »avid anti-Communist«. Eine typische Aussage zu jener Zeit, haben doch zahlreiche junge, dem Kommunismus enthusiastisch zugewandte Sozialisten:innen am Anfang des »kurzen 20. Jahrhunderts« durch die Erfahrungen im »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) einen ähnlichen Wandel durchlebt. Dieser Positionierung widersprechen aber jene Aussagen, die Steinberg sein ganzes Leben vertrat und zu denen er sich auch immer wieder im Kontext solcher Interviews bekannte. Zum Beispiel, dass der »Rote Oktober« und die soziale Revolution gerechte Projekte gewesen seien (2). Im Jahr 1917 wurde, wie Steinberg rückblickend 1929 schrieb, »die unmenschlichste Autokratie, die die Geschichte jemals gesehen hat, zu Grabe getragen« (3) und der Weg des wahren und moralischen Sozialismus, in dem sich die Menschen als Menschen selbst befreien, eingeschlagen. Diese Errungenschaften waren, und dies zeigt auch eine Beschäftigung mit Steinbergs Leben, von Anfang an prekär. Weil die Bolschewiki die »Repressionsmaßnahmen, die während einer Revolution unumgänglich sind«, wie Steinberg sehr früh erkennt, »in ein System des ständigen Staatsterrors« (4) verwandelten, ist 1917 auch das Jahr, seitdem ein »Kampf gegen die Methoden des Bolschewismus im Namen der unverfälschten Sowjetrepublik und des Weltsozialismus« (5) geführt werden müsse.
Isaak Steinberg stellt unserer Meinung nach eine besonders interessante, aber vergessene Figur rund um die Ereignisse des epochenmachenden Jahres 1917 dar, deren Geschichte in der Erzählung der Sieger verschütt gegangen ist. Im Folgenden versuchen wir, einige wenige Episoden in der Biografie jener Figur zu erzählen, um im Anschluss die theoretischen Momente des Steinberg’schen Programms in der Revolution herauszuarbeiten. (a)
Seine Theorie und Praxis lassen sich nicht in das Paradigma der politischen Frontstellung zwischen Anarchismus und Kommunismus einordnen, sondern vielmehr als ein Resultat der begrifflichen Auseinandersetzung verstehen, in der der Mensch Mittel und Ziel seiner Befreiung ist. Eine wahre Reflexion auf die Geschichte sucht nach den Möglichkeiten menschlicher Emanzipation, um das beschädigte individuelle Bewusstsein aus dem Schleier der Zwangsläufigkeit in der Geschichte zu heben.
2 Biografie
Isaak Steinberg stammt aus einer orthodox-jüdischen Kaufmannsfamilie aus der Region Rigas im russischen Kaiserreich. Er genießt eine sehr religiöse Erziehung, in der ihm allerdings die Werte der jüdischen Aufklärung (Haskala) vermittelt wurden. Sein ganzes Leben verstand Steinberg seine Religiosität nicht als gottesfürchtigen Selbstzweck, sondern als Ausdruck einer universellen Moral mit realem politischen Wirken (7).
Nach dem Abitur begann er ein Studium der Rechtswissenschaften in Moskau, wo er aufgrund seines politischen Engagements in Konflikt mit der zaristischen Gewaltherrschaft geriet. Zu diesem Zeitpunkt war Steinberg bereits Mitglied der 1901/1902 gegründeten Partei der Sozialrevolutionäre (PSR), dessen linkem Flügel er sich zeitlebens verbunden fühlte.
Die Partei der Sozialrevolutionäre war ein Zusammenschluss verschiedener Narodniki (»Volkstümler«), deren Ursprung in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Die Narodniki waren größtenteils Intellektuelle, deren wichtigstes Ziel der Sturz des Zarentums war. Der terroristische Flügel der Narodniki, die Narodnaja Volja (»Volkswille«), führte 1981 erfolgreich ein Attentat auf Zar Alexander II. durch. Solche Aktionen des individuellen revolutionären Terrors unterschied Steinberg später strikt vom bolschewistischen Staatsterror, den er verachtete (8).
Der politische Bezugspunkt der Narodniki war nicht das (sowieso noch kaum vorhandene) Proletariat, sondern die Masse der seit Jahrhunderten geknechteten Bauern im russischen Kaiserreich. Das durchaus idealisierte Verständnis, dass die Bauern noch nicht durch aristokratische oder bürgerliche Elemente moralisch verdorben seinen, motivierte die Intellektuellen dazu, aufopferungsvoll ›ins Volk zu gehen‹, um es aufzuklären. Als materielle und soziale Grundlage ihrer revolutionären Praxis sahen sie die Obschtschina an, eine kollektive Bodenordnung in der Dorfgemeinde, in der Grund und Boden periodisch saisonal unter den Bauern verteilt wurden. Dieses System unterschied sich von den Gemeinschaften der mittel- und westeuropäischen Feudalordnung und wurde als Ausgangspunkt eines agrarischen Sozialismus verstanden. (b)
Steinbergs politische Aktivitäten brachten ihn bereits 1907 in Konflikt mit dem Zarentum. Glücklicherweise wurde eine Verbannung nach Sibirien zu einem Exil umgewandelt. Gemeinsam mit seinem Bruder Aaron Steinberg (c) studierte Isaak in Heidelberg. Dort beendete er sein rechtswissenschaftliches Studium mit einer Dissertation bei Gustav Radbruch (»Die Lehre vom Verbrechen im Talmud«) und kehrte 1910 als Rechtsanwalt nach Moskau zurück, zog aber nach abermaliger politischer Verhaftung nach Ufa am Ural. Bis zum Ausbruch der Revolution im Februar 1917 trat Steinberg als Delegierter der PSR hervor und verfasste verschiedene Beiträge (10) in den Parteiorganen.
Im Revolutionsjahr 1917 geriet Steinberg in den Strudel der Weltgeschichte, die er versuchte, entscheidend mitzuprägen. Die Radikalisierung von der Februar- zur Oktoberrevolution war, wie der Historiker Alexander Rabinowitsch in seiner quellenreichen Studie über das erste Jahr nach der Revolution feststellt, weder ein rein »brillant inszenierter Staatsstreich« noch ein »breite[r] Volksaufstand der revolutionären russischen Massen« (11), sondern sie stellte eine Mischung aus beiden Momenten dar. Die Oktoberrevolution in Petrograd war »in hohem Maße ein authentischer Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit der allgemeinen Enttäuschung über die Ereignisse der Februarrevolution und der Hoffnung des Volkes auf eine bessere, gerechtere Zukunft« (12). Diese Entwicklung wurde von keiner Partei initiiert, sondern sie war das Ergebnis verschiedener innerparteilicher Interessenskonflikte und unterschiedlicher Haltungen der Kompromisslosigkeit in Verhandlungen, sowie der kollektiven Praxis in der Stadt als auch auf dem Land zu verdanken.
Die PSR war zeitweise die Partei mit dem meisten Zuspruch in der Bevölkerung. Durch ihren Eintritt in die provisorische Regierung, dem Mittragen und der Weiterführung des Krieges sowie der gleichzeitigen Verschleppung der angekündigten Bodenreform entfremdete sie sich aber zunehmend von den Massen. In der Folge spaltete sich ein Teil von der PSR ab, der der Regierungsbeteiligung kritisch gegenüberstand. An der Herausbildung der fortan als Partei der Linken Sozialrevolutionäre (PLSR) auftretende Fraktion hatte Isaak Steinberg seinerseits direkten Anteil (13). Ähnlich wie die gemäßigten Bolschewiken unterstützten die Linken Sozialrevolutionäre nicht den Staatsstreichs Lenins gegen die provisorische Regierung am 24. Oktober 1917, denn sie waren der Meinung, dass mit der unmittelbar danach geplanten Einberufung des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses bereits alle Weichen hin zu einer demokratisch-pluralistischen Arbeiter- und Bauernregierung gestellt seien. Derselbe Kongress wählte in seiner Sitzung in der Nacht auf den 27. Oktober ein Zentrales Exekutivkomitee (ZEK), bestehend aus Mitgliedern der Bolschewiki, der PSLR, Sozialrevolutionäre-Maximalisten, Ukrainischen Sozialisten und demokratische Internationalisten. Die Regierung um Lenin, der Rat der Volkskommissare (Sownarkom), war dem ZEK formell nun unterstellt und von seinen Beschlüssen abhängig.
Als Teil des ZEK war Steinberg einer der lautstärksten Kritiker der willkürlichen Unterdrückungsmaßnahmen des bolschewistischen Sownarkom im ersten Jahr der Sowjetherrschaft. Als der Sownakom die konstitutionell-demokratische Kadettenpartei Ende November mit einem Vorwand verbot und durch ein Dekret Lenins alle ihre Führer verhaftet wurden, war Steinbergs Kritik nicht, dass die Kadetten-Partei nicht konterrevolutionär sei. Seine Anklagen bezogen sich hier wie in den folgenden Monaten auf die Art und Weise der revolutionären Gewalt. Der revolutionäre Kampf solle offen und ehrlich geführt werden und nicht mit einem Prinzip, in dem die vermeintlichen Feinde der Revolution außerhalb des Gesetzes gestellt würden (14). (d) Rückblickend schreibt Steinberg, dass in diesem Dekret
»schon die Legalisierung des späteren blutigen Terrors lag (…). Zwar waren die Kadetten die geistigen und psychischen Träger der bürgerlichen Konterrevolution. Aber die Gefahr bestand darin, dass das Dekret seinen Zorn nicht gegen bestimmte schuldige Personen wandte, sondern leichthin gegen eine ganze politische Abstraktion, die unzählige Menschen umfassen konnte.« (16)
Nach längeren Verhandlungen und trotz der zahlreichen Differenzen zwischen Bolschewiki und PLSR akzeptierten beide Parteien eine Zusammenarbeit im Sownarkom am 7. Dezember 1917. Die PLSR hofften, auf die Bolschewiki mäßigend einzuwirken und an vorderster Stelle an der Revolution mitwirken zu können. Besonderen Wert legten sie dabei u.a. auf die Übernahme des Justizkommissariats durch Steinberg. Die Bolschewiki waren ihrerseits an einer Zusammenarbeit interessiert, da sie wussten, dass der neue, aber fragile Zustand ohne die Unterstützung durch die PLSR und damit der Masse der Bauern nicht lange Bestand haben würde. (e)
Für Alexander Rabinowitch steht außerdem im direkten Zusammenhang damit die Gründung der berüchtigten Tscheka (»Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage«), die noch vor dem Eintritt der PLSR in die Koalition durch die Bolschewiki mit Felix Dserschinski an der Spitze gegründet wurde. Sie wurde ausschließlich mit treuen Bolschewiki besetzt und direkt dem bolschewistisch dominierten Sownarkom unterstellt und sollte, wie der Name schon sagt, illegale Maßnahmen gegen konterrevolutionäre Umtriebe schnell und ohne Einschränkung umsetzen. Einer der ersten Amtshandlungen Steinbergs war es, telegrafisch alle Sowjets anzuweisen, die systematischen Unterdrückungsmaßnahmen einzustellen, da es an der Zeit sei, die Überwachung der Konterevolutionäre in ein revolutionäres Rechtssystem umzuwandeln (17). In den folgenden Wochen entwickelte sich zwischen der Tscheka und Steinberg eine Art Machtkampf. Immer wieder versuchte Steinberg, durch Dekrete und teils auch durch persönliches Auftreten vor Behörden und Versammlungen, die Macht der Tscheka zu begrenzen. Allein im Dezember gab es elf Sitzung des Sownarkom mit Beschwerden Steinbergs über das Verhalten der Tscheka, jedoch nie mit langfristigem Erfolg für den Justizkommissar (18).
Die Tscheka, mit ihren Vollmachten ausgestattet,
»war juristisch wie ein Ministerium für sich und ließ sich nicht vom Justizkommissar kommandieren. Dserschinski, der einzige und faktische Diktator der Tscheka, ein naher Freund und politischer Genosse Lenins, hütete mit tausend Augen seine Vollmachten und fürchtete am meisten, man könnte meinen die Räteregierung sei ebenso weich wie der Kerenski-Staat«. (19)
Einen wirklichen Bruch zwischen den Parteien verursachten diese Streitigkeiten – trotz aller Drohungen und lautstarker Auseinandersetzungen – aber nie. Dafür verantwortlich waren andere, dringlichere Umstände (20).
Angesichts des Friedensdiktats des deutschen Imperialismus von Brest-Litowsk stand die junge Sowjetrepublik am Rande des Zusammenbruchs. Seit November 1917 verhandelte das revolutionäre Russland mit dem Deutschen Kaiserreich über das Ende des Krieges. Die Waffen schwiegen, bis die Deutschen im Februar 1918 erneut vorrückten. Die deutsche Offensive stellte die junge Sowjetmacht vor eine existenzielle Krise. Lenin forderte die Ratifizierung des Friedensvertrags, um die Sowjetmacht zu retten, drohte gar mit Rücktritt. Er setzte sich in einem zähen Ringen schließlich knapp gegenüber – auch parteiinternen – Konkurrenten durch. (f) Gab es eine Alternative oder war die Lage aussichtslos? Eine realistische Einschätzung kann im Rückblick kaum gegeben werden. Zumindest für die PLSR und allen voran Steinberg war ein Diktatfrieden undenkbar, weil er einem Selbstmord der Revolution gleichkäme und das Prinzip der Revolution als solches in Frage gestellt werde: »Das schlimmste bei diesem Frieden sind nicht seine Bedingungen, sondern sein Geist. Er will die Revolution auf die Knie zwingen.« (22)
Es ist wichtig zu unterscheiden, dass nicht die Vorbereitung zu einem revolutionären Krieg, wie es von Teilen der Bolschewiki gefordert wurde, angestrebt werden sollte. Einen Krieg lehnte die PLSR einschließlich Steinberg ab. Anvisiert wurde eine dritte Alternative:
»Aufstand – nicht Krieg! Das war die Kampflosung der Linken Sozialrevolutionäre. Warum? Ein tiefer politischer und technischer Unterschied lag zwischen diesen beiden Kampfformen. Krieg ist Kampf für ›Rußland‹, für den Staat und die Nation. Aufstand ist Kampf für die Arbeiterklasse, für sozialistische Zwecke, für die Internationale. (…) Krieg ist die Fortsetzung jenes Mordens; (…) Aufstand aber bringt die arbeitenden Klassen gegen die Ausbeuterklassen auf. (…) Im Aufstand beschützt der Arbeiter auch ›Grenzen‹; aber die Grenzen müssen zugleich auch jene soziale Linie bilden, die die beiden Welten trennt: die alte und die neue Welt.« (23)
Ein Friedensschluss zu den von Lenin akzeptierten Bedingungen glich für Steinberg einem Verrat an der Revolution. Ein sozialistisches Projekt – dies stand für Steinberg dort bereits fest –, das fortan auf die Losung »Sozialismus in einem Lande« zusteuert, sei sowohl politisch als auch ökonomisch notwendig zum Scheitern verurteilt. Steinberg wertet die Politik seiner Partei als ein Lossagen von der »Staatsmacht, um freier und verantwortlicher den Sozialismus zu sichern.« Allerdings benennt er offen den Preis dieser Politik: »Die Scheidung der beiden sowjetischen Parteien führte später zur Trennung zwischen Stadt und Land, zur Parteidiktatur, zum blutigen Terror«. (24)
Für Steinberg ist der Friedensvertrag letztlich der Ausgangspunkt dafür, dass sich die Versorgungslage im revolutionären Russland katastrophal verschlechterte. Auf die Übernahme der ›Kornkammer Ukraine‹ durch die Deutschen und die darauffolgende Hungersnot in den Städten antworteten die Bolschewiki mit einem »class war« gegen die Bauern:
»Now that the Soviet Government had become a one-party regime, it felt free to pursue strictly Marxist and Bolshevik (or Communist) policies. More or less openly it declared a class war on the villages where ›bread was being hidden. ‹« (25)
Rückwirkend könnten wir es als fatalen Fehler bezeichnen, dass die PLSR aus der Koalition ausgetreten ist und den Bolschewiki um Lenin das Feld im Volkskommissariat überlassen wurde. Im Kontext der Zeit sollte man aber berücksichtigen, dass die Entwicklung hin zu einem autoritären und terroristischen Staatskommunismus zumindest für die Protagonist:innen noch nicht abzusehen war. Viele lokale und überregionale Sowjets und Dumas hätten sich ohne eine Beteiligung und Unterstützung von nicht-bolschewistischen Parteianhängern gar nicht halten können. In der Literatur ergibt sich insgesamt ein diffiziles Bild über die Entwicklung nach der Oktoberrevolution im größten Flächenland der Welt, dem an dieser Stelle überhaupt nicht Rechnung getragen werden kann.
Aber an erster Stelle ist hier die heranziehende Hungersnot mit einer weitrechenden Schließung von Fabriken und eine daraus folgende hohe Arbeitslosigkeit in den Städten zu nennen. In diesem Zusammenhang steht auch die schwindende Unterstützung für die Bolschewiki in allen Gouvernements- und Kreissowjetkongressen mit einer gleichzeitigen Zunahme des Zuspruchs zu Vertreter:innen und Sympatisat:innen der Oppositionsparteien (vor allem die PLSR, aber auch andere wie PSR, Sozialrevolutionäre-Maximalisten, Menschewiki und Anarchisten). (26) Auch Arbeiter:innenaufstände und Streiks sind hier zu nennen, die von der Regierung mit immer größerer Härte beantwortet wurden. Aus der sich verschlimmernden Versorgungslage wurde vor allem der Druck auf die Bauernschaft immer größer. Alexander Rabinowitch bezeichnet die Politik Lenins, »die Bauern auszupressen, um die hungernden Arbeiter zu ernähren« als »Kriegszustand zwischen Stadt und Land« in »großem Maßstab« (27). (g) In dieser Politik avancierten die Sozialrevolutionäre zu den größten Anklägern gegen die Bolschwiki. Im Juni hatte man sich auch wieder dem revolutionären Terrorismus verschrieben und den deutschen Botschafter Graf von Mirbach ermordet, um Lenin unter Druck zu setzen und die Deutschen wieder aus dem Land zu drängen. (29)
Die PLSR wurde schließlich, wie zuvor schon die PSR und Menschewiki, am 15. Oktober 1918 verboten und die meisten Parteiführer:innen in einer Razzia verhaftet. (30) Steinberg befand sich zu jenem Zeitpunkt nicht in Russland sondern auf Reisen, um im Ausland Unterstützung für die Sache der Revolution zu mobilisieren. (31)
An dieser Stelle möchten wir es bei der Darstellung einiger weniger biografischer Aspekte Steinbergs und den wesentlichen Episoden aus den Anfangstagen der Revolution in Russland belassen und uns den politischen Schriften Steinbergs zuwenden, in denen er die Prinzipien, die seine Aktivitäten in der Russischen Revolution – insbesondere seine Opposition gegen den bolschewistischen Terror – bestimmten, theoretisch ausformulierte.
3 Steinbergs Programm für eine »Anarchisierung der Macht«
Einen Schlüsseltext, um Aufschluss über Steinbergs Kritik am Bolschewismus und an Staatlichkeit insgesamt, über sein Konzept der Befreiung sowie seine Bezugnahme auf den Anarchismus zu erlangen, stellen Steinbergs »Thesen zum Staat» dar (32). Sie wurden 1921 bei einer Konferenz der Linken Sozialrevolutionäre als Teil des Parteiprogramms verabschiedet – zu einem Zeitpunkt also, als die Partei bereits illegal war und ihre Publikationsorgane von den Bolschewiki vernichtet wurden.
Die »Thesen zum Staat« tragen den Untertitel »betrachtet vom Gesichtspunkt der Freiheit des Menschen aus, und nicht der wirtschaftlichen Bedürfnisse«. Damit ist bereits eine entscheidende Akzentsetzung benannt, die sich insgesamt durch Steinbergs Überlegungen zieht. Während Steinberg in seinen Thesen Maßnahmen zur Reduktion der Machtausübung in Sowjetrussland entwirft und es ihm dabei vor allem um die strukturelle und institutionelle Dimension des Politischen geht, stellt er in dem 1922 veröffentlichten Aufsatz »Der Platz des Anarchismus in der linken Volkstümlichkeitsbewegung« (33) auf einer grundlegenderen Ebene Prinzipien des Aufbaus einer befreiten Gesellschaft dar. Im Folgenden werden wir die Überlegungen, die Steinberg in diesen beiden Texten anstellt, anhand von drei Themenkomplexen darstellen: Dem Problem des Übergangs, dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft sowie dem Problem der Zentralisierung und des technologischen Fortschritts.
3.1 Zum Problem des Übergangs
Steinberg ist überzeugt, dass der befreiten Gesellschaft eine Übergangsperiode vorausgehen muss, während derer die materielle Reproduktion grundlegend umgestaltet wird und die Menschen in einem sozialistischen Sinne erzogen werden. Er kritisiert die Bolschewiki dafür, dass unter ihrer Führung die Übergangsgesellschaft zu einer »Nachhut der bürgerlichen Herrschaftsordnung« (34) werde, die weiterhin auf Zwangs- und Herrschaftsmechanismen fußt. Die Formel vom ›Absterben des Staates‹ beruht Steinberg zufolge auf einer falschen Gegenüberstellung von fernem Ideal und naher Zukunft und verstrickt sich in den Widerspruch, Menschen durch Zwang zu einem freien Leben führen zu wollen (35). Steinberg setzt ihr das Konzept der kreativen Abtötung des Staates entgegen, d.h. einen bewussten Prozess der revolutionären Umgestaltung der menschlichen Natur (36), der die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen allmählich in eine freie, vertragliche Form überführe und so die Zwangsmittel des Staates überflüssig mache (37). In diesem Prozess müsse von Beginn an ein möglichst großes Maß an Freiheit verwirklicht und der arbeitenden Mehrheit die Möglichkeit zum aktiven Mitwirken an der Revolution eingeräumt werden (38). Hierbei beruft sich Steinberg auf den Anarchismus, der mit seinem Drängen nach Freiheit und seiner Emphase für die Entfaltung des Individuums, die nicht dem Primat des Gemeinwohls untergeordnet werden darf, ein unhintergehbares »Prinzip der Transformation darstelle« (39): Zwar sei der Anarchismus naiv, wenn er die Notwendigkeit einer Übergangsperiode nicht anerkenne und von der Möglichkeit einer unmittelbaren Befreiung ausgehe. Indem er aber »[n]icht so sehr nach der materiellen Befreiung (…), sondern nach der Befreiung des Menschen überhaupt« strebe, weise er über den »Sozialismus im allgemeinen Sinne des Wortes« hinaus (40), weshalb ihn die Sozialrevolutionäre als einen »belebenden Grundsatz« in ihr politisches Wirken einbeziehen sollten (41). Der Anarchismus bedeutet für Steinberg »Aufruhr der Elemente, er bedeutet freien Willen eines Menschen, der seine Verwirklichung in einem System (…) sucht« und sei daher »keine sozial-organisatorische oder sozial-technische Kategorie, sondern nur eine sozial-psychologische Kategorie« (42). Dieses enge Verständnis des Anarchismus ergibt sich daraus, dass Steinberg, wie weiter unten noch deutlicher werden wird, die Existenz von Macht und damit auch Staatlichkeit in einer komplexen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft für unumgänglich hält. Vor diesem Hintergrund könne es nur darum gehen, auf eine möglichst weitgehende »Zersplitterung der Macht« und eine Teilhabe aller daran hinzuwirken – hierfür liefert der Anarchismus einen wichtigen Impuls.
3.2 Zur Funktionsweise des Staates und zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft
Steinberg grenzt sich von einem Staatsverständnis ab, das diesen als ein äußerliches Unterdrückungsinstrument auffasst: Indem der Staat die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung sicherstellt, erfüllt er auch für das Gesellschaftsleben unabdingbar notwendige Funktionen. (43) Zugleich wendet sich Steinberg gegen das Staatsverständnis der Bolschewiki, das davon ausgeht, der Staat könne zu einem Instrument der Unterdrückung allein der Bourgeoisie umfunktioniert werden und schließlich absterben. Indem die Bolschewiki den Staat allein in seiner sozialen Dimension, d.h. als ein Instrument der Ausbeutung in den Händen der Bourgeoisie erfassen, würden sie übersehen, dass sich der Staat, sofern er nicht, wie im letzten Abschnitt angedeutet, in einem bewussten Prozess umgestaltet und in seinem Machtumfang eingeschränkt wird, in ein Mittel der Unterdrückung der Mehrheit, d.h. auch der Werktätigen verwandelt. (44) Um den sozialistischen Staat in der Übergangsperiode aufrecht zu erhalten, sei die Führung »gezwungen, die Verantwortungslosigkeit der Machtorgane vor dem organisiert handelnden Volk (Aufhebung echter Wahlen, Unterdrückung der öffentlichen Meinung u.s.w.) sowie die ständige Gewalt – den Terror, zum immerwährenden Prinzip der Führung zu erheben« (45). Gerade in der Machtkonzentration in den Räten, in denen politische und ökonomische Funktionen zusammengeführt werden, sieht Steinberg den »Urgrund von Unfreiheit«: Die Aufhebung der Gewaltenteilung, die ihm als ein fälschlicherweise verallgemeinertes »zufällige[s] Prinzip der Pariser Commune« gilt, führt dazu, dass die Macht »neue und fast alle Lebensbereiche ergreift und sich weiter und tiefer ausbreitet« (46).
In den »Thesen zum Staat« entwickelt Steinberg ein Programm, das der Verselbstständigung der Macht im sozialistischen Staat entgegenwirken soll. Der Losung »Alle Macht den Räten!« setzte er das Konzept eines Mehrkammernsystems entgegen, in dem die Räte allein für politische Fragen zuständig sind und in dem Produktionsverbänden (Syndikaten) und Konsumverbänden (Genossenschaften) jeweils gleich viel Mitbestimmungsrecht zugestanden wird. Damit geht es ihm um die Wiederherstellung des Systems der Repräsentanz, das in der bürgerlichen Demokratie verkümmert sei: »An die Stelle des alten Prinzips ›ein Mensch – eine Stimme‹ (one man – one vote) müssen wir ein anderes stellen: ein Mensch – so viele Stimmen, wie viele Interessen, aber nur eine Stimme hinsichtlich jedes Interesses« (47). Anstatt ihre Interessen in unterschiedlichen Lebensbereichen also von Delegierten in den Räten vertreten zu lassen, sollen die Menschen die Möglichkeit bekommen, sich in den unterschiedlichen Verbänden für ihre Interessen einzusetzen, wobei sich die Verbände wechselseitig kontrollieren und auch innerhalb der Räte und Verbände eine Gewaltenteilung (zwischen gesetzgeberischen, exekutiven und gerichtlichen Funktionen) herrscht. (48) Dies soll, zusammen mit der Wählbarkeit aller Amtsträger in der Bürokratie und der Ausweitung des Wahlrechts, zur Reduzierung der Machtkonzentration bei einzelnen Personen beitragen. Willkürlicher Machtausübung soll durch Maßnahmen wie den Verzicht auf die Todesstrafe und die Wahrung von Grundrechten wie freier Willensäußerung, Partizipation und Minderheitenschutz entgegenwirkt werden. (h) Darüber hinaus plädiert Steinberg für die Einrichtung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, der er zudem eine ›erzieherische‹ Funktion und die Rolle gesellschaftlicher Selbstverständigung zuspricht:
»Die Ordnungsjustiz, nachdem sie eine von Gesetzgebung und Verwaltung unabhängige Position bekommen hat, wird sich mit allen wichtigeren Rechtsstreitigkeiten des Menschen mit dem Kollektiv und den Rechtsstreitigkeiten der Kollektive wegen des Menschen auseinandersetzen. (…). Hier wird die Macht in realen ›Fällen‹ Gelegenheit haben, sich allmählich in Recht umzuwandeln. Was hier gesammelt, abgelegt und gefestigt wird, sind nicht ›Gesetze‹, sondern die aus der Kreativität der Arbeiter entstehenden Sitten, Bräuche und Präzedenzfälle, hier wird das sozialistische Rechtsbewusstsein geschmiedet.« (50)
An dieser Passage zeigt sich, dass das von Steinberg vorgeschlagene Programm zur Reduzierung des Machtumfangs zugleich den Weg für den Übergang in die befreite Gesellschaft ebnen soll: Schrittweise soll eine außerstaatliche Öffentlichkeit entstehen, in der die Menschen ausgehend von der Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse auf Grundlage freier Vereinbarungen miteinander in Beziehung treten. Dieser Prozess, den Steinberg als die »Umwandlung der Macht aus Gewalt in ›Recht‹« bezeichnet, ist für ihn allerdings nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung des Staates. Denn: »Die Voraussetzungen für die reale Vernichtung des Staates werden nur unter absolut anderen Bedingungen des menschlichen Lebens geschaffen werden, beim Verzicht auf das System der Großwirtschaft und auf große Lebensräume, sowohl hinsichtlich des Territoriums, als auch seiner Bevölkerung, nur unter eine radikalen Veränderung der Natur des Menschen (…).« (51) Warum Großindustrie und große Territorien für Steinberg zwangsläufig mit Staatlichkeit verknüpft sind, soll im letzten Abschnitt ausgeführt werden.
3.3 Zentralismus und Entwicklung der Produktivkräfte
Für Steinberg hängen Zentralisierung und Produktivkraftentwicklung eng zusammen. In den »Thesen zum Staat« konstatiert er, dass eine großindustriell und arbeitsteilig organisierte Produktion sowie internationale Lieferketten in einem sozialistischen Wirtschaftssystem zwangsläufig auf eine zentrale Koordination der menschlichen Arbeitskraft und der Verteilung von Produktionsmitteln angewiesen sind – und diese wiederum sei »nichts anderes als ein mächtiges System der Leitung, der Autorität und des Gesetzes, ein System, das seine eigene ›wirtschaftliche Bürokratie‹ und ›Polizei‹ erzeugt, die für die Ausführung ihrer ›Befehle‹ (Anforderungen der Produktion) in gewissem Maße zum Zentralismus und zu Zwangsmitteln greift« (52). Zwangsmittel und Bürokratie seien dabei einerseits auf gesamtgesellschaftlicher Ebene – da sich die einzelnen Produktionsstätten und kleineren territorialen Einheiten den Vorgaben einer zentralen Planung und Verwaltung unterordnen müssen –, andererseits aber auch innerhalb der Stätten der Produktion unvermeidlich: In der Großindustrie würden die Arbeiter:innen zu »Untertan[en] der Technik«, zu einem »Teilstück des Systems« – und selbst dann, wenn sich die Arbeiter:innen diesem System im Sozialismus nicht mehr aufgrund von Zwang, sondern aus einer Einsicht in die Anforderungen der Produktion oder aus einer moralischen Verpflichtung heraus unterordnen würden, könne es zur Quelle neuer Herrschaft werden. (53) Eine umfassende Befreiung ist für Steinberg daher auch nur durch eine grundlegende qualitative Umgestaltung der Produktion denkbar, die mit dem Verzicht auf ein gewisses Niveau des technologischen Fortschritts einhergehen würde: »Es ist höchstwahrscheinlich, dass die wirkliche Einschränkung der Macht Hand in Hand mit der Entschlossenheit zu einer gewissen Primitivität des Lebens geht, mit der Bereitschaft zu seiner freiwilligen Vereinfachung« (54) (i). An die Stelle großer Fabriken müssten ihm zufolge Kleinbetriebe und Werkstätten treten, in denen die Arbeitenden an allen Teilschritten der Produktion teilhaben können, die Raum für die »künstlerische Schaffenskraft der persönlichen Arbeit« (55) und neben organisierter Zusammenarbeit auch für unorganisierte Zusammenarbeit ließen, in denen Gemeinschaft und Zwischenmenschlichkeit unmittelbar erfahrbar sei. (56)
Da Steinberg den Verzicht auf technologischen Fortschritt und die Rückkehr zu kleineren selbstverwalteten territorialen Einheiten in Sowjetrussland nicht für denkbar und daher auch die Abschaffung des Staates nicht für möglich hält, plädiert er für die bereits beschriebenen Maßnahmen der Demokratisierung und Einhegung der Macht. Dazu zählt für ihn auch die Reduzierung des geografischen Machtumfangs, d.h. das Prinzip der Föderation anstelle des demokratischen Zentralismus. In der Föderation wird den kommunalen Einheiten, wo immer möglich, ein Selbstbestimmungsrecht zugestanden, gleichzeitig sind sie in den Bereichen, in denen dies (bspw. für die Produktion) erforderlich ist, über ein verbindliches System der Entscheidungsfindung ›von unten nach oben‹ miteinander vermittelt. (57)
4 Exil
Nach mehrmaliger Verhaftung verließ Steinberg 1923 die Sowjetunion und ging ins Exil nach Deutschland, wo er bis Anfang der 30er Jahre lebte. Er betätigte sich in der Auslandsorganisation der PLSR, die sich vor allem der Unterstützung politischer Gefangener in der Sowjetunion widmete, und versuchte, auf eine Vereinigung antibolschewistischer Linker aus verschiedenen Strömungen hinzuwirken. Er verkehrte dazu in linksradikalen und dissidenten Kreisen, machte u.a. Bekanntschaft mit den Linkskommunisten um Karl Korsch, den Anarchosyndikalisten um Rudolf Rocker und dem Publizisten Franz Pfemfert. Deutlich wird sein Engagement etwa in seinem Text »Die Partei der linken Sozialrevolutionäre«, in dem er sich an die sozialrevolutionär gesinnte westliche Linke wendet und sie auffordert, sich mit den unter der »Geschichtsschreibung der Sieger« verschütteten Prinzipien der PLSR und ihrer Opposition gegen die Herrschaft der Bolschewiki auseinanderzusetzen. Um die Fehler der Russischen Revolution nicht zu wiederholen, müsse man die gesamte Übergangszeit unter der Maßgabe des Sozialismus gestaltet werden, d.h. auf die Verwirklichung des größtmöglichen Maßes an Freiheit und Partizipationsmöglichkeiten zielen. Für Steinberg bedeutet dies, über die »rein marxistischen Methoden des Aufbaus des Sozialismus hinauszugehen« (58): Der Versuch, eine befreite Gesellschaft aufzubauen, kann sich nicht darauf beschränken, die Klassen- und Produktionsverhältnisse umzuwälzen, sondern muss sich zugleich bestimmten ethischen Prinzipien – der Achtung des Individuums, der Wahl von Mitteln, die dem angestrebten Zweck entsprechen – verschreiben. Damit zeigt Steinberg auch auf, wie eine »höhere Synthese« (59) von Marxismus und Anarchismus aussehen könnte, die unserer Meinung nach bis heute nicht an Notwendigkeit eingebüßt hat.
Anmerkungen
(a) Eine Gesamtbiografie, die dem wirklich beeindruckenden Leben Isaak Steinbergs angemessen wäre, muss noch geschrieben werden. Zu einer ausführlicheren Darstellung verschiedener biografischer Aspekte und Lebensabschnitte vor allem nach 1918 verweisen wir auf Grill 2014, 2017, 2018 und Wallat 2023 (6).
(b) Die später im orthodoxen Marxismus hegemonial vertretene Geschichtstheorie des historischen Materialismus, in der – kurz gesagt – jede Feudalgesellschaft, bevor sie in den Sozialismus eintritt, erst die nächsthöhere Entwicklungsstufe, den Kapitalismus, durchlaufen muss, hat auch Karl Marx beschäftigt. Am bekanntesten ist wahrscheinlich der Briefwechsel mit der Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch. Dort stellt sie dem alten Marx genau die Frage nach der (notwendigen) historischen Entwicklung. An den verschiedenen Entwürfen ist erkennbar, wie stark der Autor von »Das Kapital« mit einer Antwort an Sassulitsch haderte. Letztlich enthalte, so Marx, »die im ›Kapital‹ gegebene Analyse […] keinerlei Beweise – weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde«. Im Gegenteil, sein dafür recherchiertes Quellenmaterial habe ihn »davon überzeugt, dass diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands ist.« (9) Letztlich stand Marx mit dieser Position den linken Sozialrevolutionären näher als dem Programm der Bolschewiki.
(c) Zu Aaron Steinberg vgl. Wallat, H. & Schweigmann-Greve, K. (2021): Judentum und Sozialismus im Werk von Aaron Steinberg. Sans phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, Heft 18, S. 211-224.
(d) Bezeichnend waren hier die aus heutiger Sicht geradezu prophetisch erscheinenden Antworten Lenins und Trotzkis an Steinberg: Sie rechtfertigten ihr Vorgehen mit einem Rückgriff auf die Französische Revolution, dort wären die Jakobiner auch so verfahren. Trotzki bemerkte: »Es ist nichts Unmoralisches daran, wenn das Proletariat einer abtretenden Klasse den Gnadenstoß versetzt (…) Ihr [die Linken Sozialrevolutionäre] heuchelt Empörung über den nackten Terror, den wir gegen unsere Klassenfeinde einsetzen. Lasst mich euch versichern, dass er in spätestens einem Monat bedrohlichere Formen annehmen wird, die sich am Vorbild der großen französischen Revolution orientieren. Nicht die Festung erwartet unsere Feinde, sondern die Guillotine« (15)
(e) Aufgrund der bolschewistischen Mehrheit im ZEK blieben die PLSR auch im Sownarkom in der Minderzahl gegenüber den Bolschewiki. Allerdings ist nicht zu vergessen, dass Lenins Position innerhalb des bolschewistischen Spektrums nicht unwidersprochen war, sondern sich im Laufe der Monate durch verschiedenste interne und externe Umstände und den darauffolgenden schnellen Handlungszwängen während der Revolution erst dazu entwickelte. An dieser Stelle sei noch einmal auf die ausgezeichnete Studie Alexander Rabinowitchs hingewiesen, der die einzelnen Wegpunkte und Ereignisse detailliert nachzeichnet.
(f) Parteiintern waren es die sogenannten Linkskommunisten um Alexandra Kollontai mit ihrem Ehemann Walerian Oblenski u.a., die den Diktatfrieden ablehnten. Auch sie traten daraufhin demonstrativ aus dem Sownarkom aus. Die Bolschewiki standen kurz vor einer Spaltung. (21)
(g) Es wäre nach Lutz Häffner falsch, die bolschewistische Agrar- und Versorgungspolitik isoliert von der gesamtgesellschaftlichen Realität zu betrachten. »Vordergründig wurde die bolschewistische Politik tatsächlich von der Versorgung der hungernden Städte bestimmt. Doch dahinter stand ein politisches Problem, nämlich die Sicherung der bolschewistischen Regierungsmacht. … [D]ie Bolschewiki [initiierten] weniger aus ideologischen Erwägungen als vielmehr aus politischem Machtkalkül einen ›Kreuzzug‹ gegen das Dorf (…). Durch diesen Primat der Politik verloren die Bolschewiki die bedeutende ökonomische Komponente ihres Handelns aus den Augen, nämlich dass die Bauern auf die politische Pression (…) durch eine Rücknahme der Produktion lediglich für den Eigenbedarf antworten und damit zu einer weiteren Verschlechterung der ohnehin angespannten Versorgungslage beitragen würden.« (28)
(h) Auf den ersten Blick kann es scheinen, als würde Steinberg die Wiedererrichtung bürgerlicher Institutionen vorschweben. An seinen ablehnenden Äußerungen zum Parlamentarismus (49) wird allerdings erkennbar, dass er der bürgerlichen Demokratie ein Konzept der umfassenden Partizipation und Selbstverwaltung der Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen entgegensetzt. Man könnte sagen, dass Steinberg mit seinem Programm zur Reduktion des Machtumfangs den emanzipatorischen Gehalt bürgerlich-demokratischer Institutionen bewahren und sie durch die Einbettung in eine sozialistische Produktionsweise so wenden will, dass sie tatsächliche Gleichheit und Freiheit ermöglichen.
(i) Wir halten die Überzeugung, dass technologischer Fortschritt zwangsläufig mit Herrschaft verbunden ist, für eine zu starke Setzung Steinbergs: Warum sollte es nicht denkbar sein, dass – eine sozialistische Produktionsweise vorausgesetzt – eine »maschinenorientierte Kultur« die Freiheit und kreative Entfaltung der Einzelnen zulässt oder vielleicht sogar erst ermöglicht? Dennoch bleibt festzuhalten, dass Steinberg mit der Forderung nach einer qualitativen Umgestaltung der Produktion auf ein reales Problem der Übergangsgesellschaft verweist, zudem stellt sich die Notwendigkeit zu einer »Vereinfachung des Lebens« heute angesichts der Klimakrise heute möglicherweise auf eine veränderte Weise.
Verwendete Literatur
\ (1) Steinberg, Isaak (1929) Als ich Volkskommissar war. Episoden aus der russischen Revolution. München: R. Piper & Co. Verlag, S. 7.
\ (2) Vgl. Grill, Tobias (2018): Für den ›Roten Oktober, gegen die Bolschewiki. Isaac Steinbergs Kampf für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, S. 1-22.
\ (3) Steinberg (1929, siehe oben), S. 9.
\ (4) Ebd., S. 14
\ (5) Ebd.
\ (6) Grill, Tobias (2014): Isaak Nachman Steinberg: »Als ich Volkskommissar war« oder »Eine soziale Revolution, die die Rechte ihrer Klassengegner verteidigt – das wäre eine große moralische Lehre der Menschlichkeit gewesen!«, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, 23, S141–167; Grill, Tobias (2017): Kampf für Sozialismus und Judentum auf vier Kontinenten: Isaac Nachman Steinbergs rooted cosmopolitanism, in BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 28(1-2), S. 41-65; Grill, Tobias (2018, siehe oben); Wallat, Hendrik (2023): Das sittliche Antlitz der Revolution. Eine ausführliche Würdigung des politischen Hauptwerks des linken Sozialrevolutionärs Isaak N. Steinberg, in: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft [Preprint].
\ (7) Wallat, Hendrik (2013): Oktoberrevolution oder Bolschewismus: Studien zu Leben und Werk von Isaak N. Steinberg. 1. Auflage, Münster: Edition Assemblage, S. 14.
\ (8) Ebd., S. 15.
\ (9) MEW Bd. 19, S. 293.
\ (10) Wallat (2013, siehe oben), S. 19.
\ (11) Rabinowitch, Alexander (2010): Die Sowjetmacht: das erste Jahr, Essen: Mehring-Verlag, S. 16 f.
\ (12) Ebd., S. 18.
\ (13) Wallat (2013, siehe oben), S. 38 f.
\ (14) Rabinowitch (siehe oben), S. 104 f.
\ (15) Trotzki, zitiert nach ebd., S. 105.
\ (16) Steinberg (1929, siehe oben), S. 52.
\ (17) Rabinowitch (siehe oben), S. 119.
\ (18) Ebd.
\ (19) Steinberg (1929, siehe oben), S. 143.
\ (20) Rabinowitch (siehe oben), S. 278.
\ (21) Ebd., S. 261 f.
\ (22) Steinberg (1929, siehe oben), S. 233.
\ (23) Ebd., S. 241
\ (24) beide Zitate: ebd., S.250.
\ (25) Vgl. Steinberg, Isaak (1953): The workshop of revolution. Online unter https://www.marxists.org/archive/steinberg/1953/workshop/ch18.htm
\ (26) Vgl. Wallat, (2013, siehe oben), S. 52 f.; Rabinowitch (2010, siehe oben), S. 285-378; Häfner, Lutz (1994): Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre, Köln: Böhlau, S. 457-494.
\ (27) Rabinowitch (siehe oben), S. 362.
\ (28) Häfner (siehe oben), S. 481.
\ (29) Rabinowitch (siehe oben), S. 391-395.
\ (30) Ebd., S. 476 f.
\ (31) Birkenmaier, Willy (2002): Vorwort, in: ders. (Hrsg.:): Isaak Steinberg und der Frieden von Brest-Litowsk, Heidelberg: Institut für Übersetzen und Dolmetschen, S. 6.
\ (32) Steinberg, Isaak (2001[1921]): Thesen zum Staat, in: Willy Birkenmaier (Hrsg.:): Isaak Steinberg: Von Moskau nach Sydney, Heidelberg: Institut für Übersetzen und Dolmetschen, S. 18-30.
\ (33) Steinberg, Isaak (2022[1922]): Der Platz des Anarchismus in der linken Volkstümlichkeitsbewegung, in: Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, Nr. 13, S.159-181.
\ (34) Ebd., S.173.
\ (35) Steinberg (2001, siehe oben), S. 20-21.
\ (36) Steinberg (2022, siehe oben), S. 178.
\ (37) Steinberg (2001, siehe oben), S. 29.
\ (38) Ebd., S.20.
\ (39) Steinberg (2022, siehe oben), S.175.
\ (40) Ebd., S.160.
\ (41) Ebd., S.175.
\ (42) Ebd., S.174.
\ (43) Steinberg (2001, siehe oben), S. 22.
\ (44) Ebd, S.19.
\ (45) Ebd, S.18.
\ (46) Ebd., S.19; S. 23.
\ (47) Steinberg, Isaak (2001[1922]): Gildensozialismus, in: Willy Birkenmaier (Hrsg.:): Isaak Steinberg: Von Moskau nach Sydney, Heidelberg: Institut für Übersetzen und Dolmetschen, S. 66-84., hier S. 78.
\ (48) Ebd., S. 25-26.
\ (49) Steinberg, Isaak (2001[1921]): Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre, in: Willy Birkenmaier (Hrsg.:): Isaak Steinberg: Von Moskau nach Sydney, Heidelberg: Institut für Übersetzen und Dolmetschen, S. 96-102) hier S.102Steinberg, Isaak (2001[1921]): Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre, in: Willy Birkenmaier (Hrsg.:): Isaak Steinberg: Von Moskau nach Sydney, Heidelberg: Institut für Übersetzen und Dolmetschen, S. 96-102) hier S. 98-100
\ (50) Steinberg (2001, siehe oben), S. 28
\ (51) Ebd., S. 29.
\ (52) Ebd., S. 24.
\ (53) Steinberg (2022, siehe oben), S. 168-169.
\ (54) Ebd., S. 171.
\ (55) Ebd., S. 167.
\ (56) Steinberg (2001, siehe oben), S. 79.
\ (57) Ebd., S. 25-26.
\ (58) Steinberg (2001, siehe oben), S. 102.
\ (59) Ebd.