Kantine »Festival«

Gramsci über den Faschismus


Manuel Disegni

Als Antonio Gramsci entschied, sein Leben und all seine bemerkenswerten geistigen und praktischen Kräfte dem politischen Kampf zu widmen, schien der Siegeszug der sozialistischen Weltrevolution im Gange zu sein. Er starb zu einer Zeit, in der der Faschismus überall herrschend geworden war.
Einer der Hauptstränge seines Denkens ist daher die Analyse des faschistischen Phänomens, d. h. des wichtigsten subjektiven und gesellschaftspolitischen Faktors, der die sozialistische Revolution in Italien unmöglich gemacht hat.
Dass er in elf Jahren äußerst harter Gefangenschaft trotz dem allmählichen Verfall seiner physischen Gesundheit (nicht aber seines Geistes) seinen Freiheitskampf bis zum Ende fortsetzte, ist vielleicht das bedeutendste geistige Ereignis des 20. Jahrhunderts in Italien. Davon legen die berühmten Gefängnishefte Zeugnis ab. Sie enthalten eine äußerst differenzierte, originelle, undogmatische und organische Analyse des Faschismus, die jedoch aus einer großen Menge fragmentarischer, unter extrem harten Bedingungen verfasste Texte destilliert werden muss. Es handelt sich um keine akademische Abhandlung, sondern um die militante Ausarbeitung eines proletarischen Führers. Sie wurde sozusagen live durchgeführt und ist verwickelt in einen Zusammenhang zahlreicher Ereignisse und wechselnder möglicher Ergebnisse, wodurch der Erkenntnisfortschritt in enger Beziehung zur Entwicklung der aktuellen Klassenkämpfe sowie zu den taktischen und strategischen Problemen steht, denen die von Gramsci selbst mitbegründete Partito Comunista d’Italia und die Kommunistische Internationale sich stellen mussten. Für Gramsci ist der Faschismus nicht bloß ein Gegenstand der Analyse. Vielmehr bildet er den historischen Kontext seiner politischen Tätigkeit und Lebenserfahrung – ein Kontext, dessen Natur, Ursprung, Zeitdauer und räumliche Ausdehnung sich aller Voraussicht zu entziehen neigten.
Manuel Disegnis Versuch, Gramscis Faschismus-Interpretation zu rekonstruieren, wird sich um zwei Schwerpunkte drehen: einerseits die Hegemonie-Krise der europäischen Bourgeoisie und die Auflösung des liberalen Kapitalismus; andererseits die Unfähigkeit der sozialistischen Führung Italiens, die politische Macht zu ergreifen und den Ausweg aus der Krise auf emanzipatorische Weise zu bewältigen. „Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen“.
Dabei soll auch die spezifische Originalität der analytischen Methode Gramscis konturiert werden: Seine Bemühung, die nationalen Besonderheiten der politischen Phänomene im Rahmen von und im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Weltprozessen der Zeit zu erfassen. Die daraus resultierende Auffassung des vornehmlich, aber nicht ausschließlich italienischen Phänomens des Faschismus durchkreuzt alle klassischen Ansätze: Faschismus als historische Klammer und momentane moralische Krankheit (Croce); Faschismus als Offenbarung der überlieferten Defekte der italienischen Nation (Gobetti); Faschismus als Klassenkampf von oben, antiproletarische Reaktion (Marxismus). Von diesen Optionen werden bei Gramsci jeweils die Wahrheitselemente aufgehoben, aber ohne sich mit schematischen, reduktionistischen oder generalisierenden Erklärungsmustern zufrieden zu geben.

Manuel Disegni hat Philosophie in Berlin studiert. Sein Buch Die Aktualität des Ursprungs. Historische Erkenntnis bei Marx und Walter Benjamin erschien 2017. Aktuell bearbeitet er seine Doktorarbeit über Karl Marx und den modernen Antisemitismus für ein weiteres Buch. Er lebt in Turin, wo er in einer Schule arbeitet und einen Postdoc am Institut für Philosophie und Erziehungswissenschaften der dortigen Uni macht.

Die Diskussion im Anschluss an den Vortrag beginnt bei 01:01:00.